Das geheime Lied: Roman (German Edition)
seinem üblichen autoritären Tonfall an.
»Warum sollte ich das …«
»Weil es dem Wunsch von Kapitän Misson entspricht.«
Bei der Erwähnung dieses Namens beschloss der Maat, doch lieber dem Italiener selbst die Entscheidung zu überlassen, was mit diesen Schiffbrüchigen zu tun sei. Das Boot wurde festgezurrt, und die drei Franzosen kletterten an Bord. Man führte sie unter Deck. Dort redeten mehrere Männer, alle mit den gleichen weiß bemalten Gesichtern, im Schein einer Öllampe angeregt durcheinander, während ein Koch Suppe zubereitete. Einer von ihnen war Caraccioli. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, La Bouche erkannte ihn aber sofort an seiner fülligen Figur und daran, dass ihm ein Bein fehlte – das hatte er noch vor der Gründung Libertalias in einer Schlacht an der Küste von Zanguebar verloren. Vor allem war aber seine Redseligkeit unverkennbar. Der Italiener war offensichtlich betrunken. An diesem Abend hatte er seine Männer gebeten, sich das Gesicht anzumalen und die Stofffetzen über das ganze Schiff zu verteilen. »Weiß wie unsere Fahne!«, hatte er verkündet. »Erweisen wir ihr zu ihrem Jahrestag die Ehre!« Damit wollte er also feiern, dass an diesem Tag vor dreißig Jahren Misson die Victoire unter sein Kommando gebracht hatte und zum Kapitän gewählt worden war.
Caraccioli hatte sein Holzbein abgenommen und fuchtelte damit in der Luft herum. Er erzählte von der Schlacht, bei der er sein Bein verloren hatte. Das tat er ohne Groll und schlug dabei mit der Hand auf den Stumpf.
»Misson hat immer gesagt, wir hätten uns zurückziehen müssen! Nicht wegen des Beins, sondern wegen der dreißig Männer, die wir an jenem Tag verloren haben. Der Kapitän hat den Namen jedes einzelnen Mannes im Kopf, der für ihn gefallen ist! Diese verfluchten portugiesischen Schiffe … Noch nie hatte ich so eine fette Beute gesehen – ihr Laderaum war voller Goldstaub!«
»Es lebe das portugiesische Gold!«, rief einer der Seeleute, erhob sein Glas und ließ Alkohol auf die anderen herabregnen.
»Es war aber nicht das Gold, das uns antrieb«, fuhr Caraccioli fort. »Als wir an jenem Tag den Kapitän der Victoire verloren hatten, zweifelte niemand daran, dass Misson das Kommando übernehmen und uns im Sinne seiner hehren Werte zu neuen Taten führen sollte. Er aber« – Caraccioli hob den Zeigefinger, um die Bedeutung dessen zu unterstreichen, was er jetzt sagen würde, und setzte eine ernste Miene auf – »versuchte uns noch zu überzeugen, dass er dieser Ehre unwürdig sei.«
»Damit hat er uns endgültig überzeugt!«, warf einer der Seemänner ein.
»Wiederholt doch noch einmal, was Ihr damals ausgerufen habt!«, grölte ein anderer.
Der Italiener legte die Prothese zur Seite und griff zu einer Flasche, die er dramatisch erhob.
»Ich sagte: Du wirst mit wenigen Männern die Welt erobern, so wie Mahoma und seine Kameltreiber das arabische Kalifat gründeten oder Dareios und seine sechs Gefährten das persische Reich!«
»Das war ein großer Tag!«, rief derjenige aus, der die Suppe umrührte.
»Er hat der Besatzung bedingungslose Gleichberechtigung zugesagt … und Freiheit!« Seine Stimme zeugte nicht nur vom Alkoholgenuss, sondern ließ auch Wehmut und Stolz durchscheinen. »Freiheit, das wertvollste Gut, das unser Schöpfer uns geschenkt hat! Alle riefen: Hoch leben Kapitän Misson und sein Statthalter Caraccioli!«
»Signore …«, unterbrach ihn nun endlich der Maat, der hinter ihm stand.
»Wer wagt es, die Erinnerung an einen solchen Moment zu stören?«, lallte der Angesprochene und verschüttete, was sich an Alkohol noch in der Flasche befand. Erst dann bemerkte er die Anwesenheit der drei Franzosen. »Wen zum Teufel habt Ihr denn da mitgebracht?«
»Sie haben mir versichert, dass Kapitän Misson sie persönlich eingeladen hat …«
»Wer seid ihr?«, fuhr er sie an. Auf nur einem Bein bewegte er sich schwerfällig.
»Kapitän La Bouche.«
»La Bouche?«
»Wenn Ihr erst die Gelegenheit habt, mit Misson zu sprechen, wird er Euch bestätigen, dass …«
»Misson muss mir überhaupt nichts bestätigen! Wir sind uns bei Sainte Marie begegnet, als er auf dem Rückweg nach Libertalia war, und er hat mir von Eurem Treffen auf dem Meer berichtet«, sagte der Italiener jetzt etwas ruhiger.
»Das macht die Dinge einfacher.«
»Außerdem«, fuhr der Italiener fort, als wolle er seine Stellung unterstreichen, »ist auch mir in der Vergangenheit so manche Geschichte über Euch zu Ohren
Weitere Kostenlose Bücher