Das geheime Lied: Roman (German Edition)
gekommen. Schließlich habe ich Misson auf seinem Weg begleitet, seit er sein erstes Tau aufgeschossen hat.«
Er wandte sich an den Musiker.
»Und wer bist du?«
»Matthieu Gilbert, ich bin …«
»Aber seht euch doch an!«, unterbrach ihn Caraccioli. »Ihr seht wie die reinsten Streuner aus! Und wo ist euer Schiff?«
»Da ist kein Schiff«, mischte sich der Maat ein.
»Kein Schiff?«
»Der Rest meiner Männer«, erklärte La Bouche, »ist mit dem Frachter, den ich von La Rochelle hergeführt habe, nach Bengalen weitergefahren.«
»Und was habt Ihr mir dann anzubieten? Eine schöne Beute! Ein Kapitän ohne Schiff und in Begleitung von solchem Lumpengesindel!«
Matthieu fragte sich, ob Caraccioli in Wirklichkeit nur Eifersucht überkam und er nach irgendeinem Grund suchte, sie nicht nach Libertalia zu führen. Er war nicht mehr der junge, rebellische Priester, den Misson vor drei Jahrzehnten kennengelernt hatte, und vielleicht dachte er, dass sein Einfluss auf den Kapitän vermindert würde, wenn La Bouche sich dem Kapitänsrat anschloss. Der Piratenpriester wandte sich ab und sprach mit Blick auf die Öllampe schleppend zu ihnen.
»Kehrt dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.«
»Ihr müsst uns nicht bis in Eure Republik begleiten, Signore«, versetzte La Bouche vorsichtig. »Gebt uns nur die Koordinaten, und wir werden versuchen, sie mit unserem Segelschiff zu erreichen …«
»Die Koordinaten?«, brüllte der Italiener. »Habt Ihr den Verstand verloren? Ihr könnt von Glück sagen, wenn ich Euch Euer Leben lasse!«
»Ihr dürft Euch den Befehlen des Kapitäns nicht widersetzen!«, knurrte La Bouche nun wütend.
»Der Ka-pi-tän«, antwortete ihm der Pirat und betonte dabei jede einzelne Silbe voller Ironie, »hat mir noch nie einen Befehl erteilt. Wir haben Libertalia gemeinsam gegründet, gemeinsam haben wir den Kapitänsrat einberufen, und wir entscheiden auch gemeinsam über den Beitritt neuer Kandidaten.« Nervös stieß er ein heiseres Husten aus und spuckte zur Seite. »Er hat mich gebeten, über die Möglichkeit Eurer Aufnahme nachzudenken, und ich entscheide jetzt, dass Ihr mir vorkommt wie ein Flüchtling ohne Schiff, ohne Männer und ohne eine einzige Goldmünze. Denn davon kann man ja wohl ausgehen, wenn man bedenkt, dass Ihr gar keine Taschen habt!«, lachte er und wandte sich wieder den Seinen zu.
Als Matthieu schon alles verloren glaubte, erklang aus der Tiefe des Schiffsbauches eine dunkle Stimme, die ihm bekannt vorkam.
»Signore Caraccioli«, sagte die Stimme, »der Jüngste von ihnen ist Musiker.«
Matthieu kniff die Augen zusammen, um in der Finsternis jenseits der Öllampe etwas erkennen zu können. Der Mann, der gesprochen hatte, war ein kräftiger Schwarzer und hielt zwei Hühner in der Hand, die er gerade in seiner Ecke gerupft hatte.
»Du …«
Hinter dem weiß angemalten Gesicht erkannte er ohne jeden Zweifel den Griot, den Sklaven von Gorée, der wieder einmal aus der Dunkelheit aufgetaucht war, um ihn zu retten, wie an dem Tag in Madame Serekundas Sklavenlager, oder als er ihn in der Gewitternacht an Bord des Schiffes gepackt hatte, damit er sich nicht vom Fieber getrieben in die Fluten warf.
»Als wir uns auf dem Meer begegneten, unterstellte mich Misson dem Kommando von Signore Caraccioli. Ich sollte erst ein wenig das Meer befahren, bevor man mich nach Libertalia bringt«, erklärte der Griot.
»Ich freue mich so, dich zu sehen.«
»Ihr kennt euch?«, wunderte sich der Piratenpriester.
»Dieser Sklave …«, begann La Bouche, unterbrach sich aber augenblicklich. »Der Griot«, korrigierte er sich, »fuhr auf meinem Schiff mit, als die Victoire uns angriff.«
Caraccioli wandte sich an Matthieu.
»Bist du wirklich Musiker?«
»Ja.«
»Spielst du nur Musik oder … komponierst du sie auch?«
»Ich komponiere auf der Geige und der Orgel und bin als Kammermusiker ausgebildet … Ich kann spielen oder komponieren, was Ihr wollt. Stellt mich doch auf die Probe!«, forderte er den Piratenpriester heraus, bei dem er unerwartet echtes Interesse bemerkte.
»Und Gesang?«
Worum ging es hier bloß? Warum auf einmal all diese Fragen?
»Ich kann natürlich auch einen Chor leiten, wenn Ihr das meint. Und ich kann Melodien für verschiedene Stimmen schreiben, damit sie harmonisch zusammenklingen. Immerhin bin ich ein Neffe von Marc-Antoine Charpentier«, verkündete er mit mehr Stolz, als er wegen dieser Verwandtschaft je empfunden hatte. »Habt Ihr etwa seine Messen
Weitere Kostenlose Bücher