Das geheime Lied: Roman (German Edition)
glänzenden Grünton.
Pierre und La Bouche traten an die Steuerbordreling, um dieses Wunder der Natur zu bestaunen. Mit weit aufgerissenen Augen lehnten sie sich behutsam an das Geländer.
»Ich habe diese Gegend doch tausendmal befahren …«, murmelte La Bouche. »Wo hat sich dieses Meer da versteckt?«
»Es ist, als würde man einen riesigen Edelstein durchqueren …«, flüsterte Matthieu.
Vielleicht lag es daran, dass die Sonne von einer weitläufigen Untiefe aus weißem Sand reflektiert wurde, vielleicht war die Farbe eine Laune einheimischer Götter, oder vielleicht öffnete sich dort unten, wie Caraccioli in seinem Priesterton versicherte, auch eine Tür direkt ins Paradies. Aber eines war sicher, weder Matthieu noch Pierre oder selbst La Bouche hatten während ihrer Zeit auf dem Meer je so klares Wasser gesehen. Es war derart durchsichtig, dass man den Eindruck hatte, statt auf Wasser in der Luft voranzugleiten, eskortiert von Legionen gelber Fische, die ebenfalls über die Korallen hinwegzufliegen schienen.
In dieser Nacht schliefen sie zum Wiegenlied eines Windes, der den Schoner mit ungewohnter Sanftheit vorantrieb. Als sie aufwachten, waren sie von dichtem Nebel umgeben. Matthieu ging an Deck. Er sah kaum die Hand vor Augen, der Steuermann hielt aber unbeirrbar den Kurs. Die Männer liefen am Bug zusammen. Stumm kniffen sie die Augen zusammen, um durch den sich nach und nach auflösenden Dunst etwas zu erkennen. Plötzlich ertönte eine einzige Stimme auf dem Schiff:
»Hoch lebe Libertalia!«
Matthieu hatte das Gefühl, vom gedämpften Ton eines Englischhorns umfangen zu werden, als vor seinen Augen ein befestigter Hafen auftauchte.
Er machte sich auf die Suche nach Pierre, der das Stimmengewirr gehört hatte und ebenfalls aus seiner Kajüte kam. Jeder feierte die Ankunft auf seine Weise. Hinter La Bouches versteinerter Miene verbarg sich die Genugtuung darüber, dass er sich vor dem legendären Kleinod befand, Wehmut, weil gerade der letzte Traum seiner Jugend in Erfüllung ging, und Nervosität, weil er sich den Weg hierher mit einer Lüge geebnet hatte. Der Griot stand an eine Strickleiter geklammert da, es regten sich nur die Elfenbeinaugen, die jedes winzige Detail seiner neuen, künstlich erschaffenen Heimat aufzunehmen versuchten.
Matthieu war von der ausgedehnten Flotte beeindruckt, die im Hafen zu sehen war. Es gab Schiffe und Boote unterschiedlichster Form und Größe, aus Europa und dem Orient, alle mit eingerollten Segeln und der immer gleichen weißen Flagge. Der Hafen war umgeben von den achteckigen Wehrtürmen eines früheren portugiesischen Forts, ein jeder davon mit vierzig Kanonen. Weitere Batterien schützten die Flanken und würden jeden Eindringling unter Beschuss nehmen, dem es gelungen war, die erste Feuerlinie zu durchbrechen. Und all dies wurde vom satten Grün des Wassers und der palmenbewachsenen Hügel umrahmt. Es wirkte zweifellos wie eine Theaterkulisse, vielleicht die, in der Prinzessin Oriane in ihrem Verließ darauf wartet, von Amadis de Gaule gerettet zu werden.
Die Wachen erkannten Caracciolis Schiff und feuerten zum Willkommen neun Kanonenschüsse ab. Die Rückkehr einer Mannschaft nach Libertalia war immer ein Grund zur Dankbarkeit.
»Bei so einem Anblick musste Misson ja denken, dass dieser Ort Gottes besonderen Segen hatte«, sagte Matthieu laut, ohne die Worte an jemand Bestimmten zu richten.
Caraccioli wurde nach dem zweiten Glas stets redselig und hatte ihnen erzählt, dass Kapitän Misson diesen Ort vor fünfundzwanzig Jahren entdeckt hatte. Er war augenblicklich davon überzeugt gewesen, dass dieser Fund Bestimmung sein musste. Einige Zeit zuvor war er der Königin der nahen Johanna-Insel im Krieg gegen die Wilden des benachbarten Mohilla-Eilands zu Hilfe gekommen. Nun bat er sie im Gegenzug, ihm junge, starke Männer zur Verfügung zu stellen, die für ihn Bäume fällten und eine erste Siedlung bauten, die von den Eingeborenen nicht zerstört werden konnte. In wenigen Tagen wurde ein Fort errichtet, welches den baldigen Angriffen standhielt, mit denen man bereits gerechnet hatte. Jene erste Zeit der Feindseligkeiten dauerte nicht lange an. Misson hatte die Herrscher der Eingeborenen mit Geschenken für ihr Volk überhäuft – Töpfe, Rum, Stoffe, Macheten –, und diese waren bald davon überzeugt, dass das friedliche Zusammenleben mit den Neuankömmlingen für sie von Vorteil sein würde. Der Pirat führte seine politischen und spirituellen
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