Das geheime Lied: Roman (German Edition)
abgewandt. In einer Hand hielt er eine Uhr, mit der anderen kontrollierte er die Temperatur des Ofens, um mit absoluter Genauigkeit die Vorgaben der Partitur umzusetzen. Sie durften sich keine Fehler erlauben. Matthieu konnte feststellen, dass die Mischung nach und nach so aussah, wie es Newtons handschriftliche Notizen in einem aufgeschlagenen Buch vorgaben.
Charpentier war der Einzige, der den Keller verlassen konnte, ohne in den Räumen des Schlosses große Aufmerksamkeit zu erregen. Er kehrte gerade von einem Erkundungsrundgang zurück.
»Die Salons sind voll von Edelleuten, die sich für die Feier herausgeputzt haben. Stellt euch nur vor: Alle tragen …« Er hielt inne. »Aber wen interessiert das schon. Unser Herrscher ist völlig verrückt!«
»Was tragen sie denn?«, wollte Matthieu wissen.
»Tuniken und allegorischen Frühlingsschmuck«, erklärte sein Onkel resigniert. »Sie haben sich wie Faune geschminkt.«
Matthieu blickte einen Moment nachdenklich drein.
»Das macht alles noch leichter«, murmelte er.
»Was macht es leichter?«
»Könnt Ihr eine Tunika für mich besorgen?«
»Wozu willst du denn …?«
»Es ist die einfachste Art, nicht aufzufallen.«
»Du willst dich oben unter die Gäste mischen?«
»Ich muss beenden, was wir angefangen haben.«
Sie sahen sich in die Augen.
»Ich bin gleich mit ein paar Tüchern wieder hier«, versprach der Komponist.
»Bringt auch Schminkzeug mit«, bat ihn Matthieu.
Charpentier kam bald mit allem zurück, worum sein Neffe ihn gebeten hatte.
Luna übernahm es, ihm das Gesicht zu bemalen. Sie tat es auf ihre Art: Eine Hälfte wurde zu den blauen Wassern Madagaskars, die andere zu den goldenen Stränden der Anosy. Matthieu legte sein Hemd ab und streifte sich die Tunika über. Er umarmte seinen Onkel.
»Sei vorsichtig«, bat ihn der Komponist, während der junge Musiker im dunklen Gang verschwand.
6
K einer der Adligen hatte es gewagt, sich der Bitte des Herrschers zu widersetzen. Zum vorgesehenen Zeitpunkt ergoss sich eine Flut aus Tuniken, Efeuranken und Blumenkränzen in die Galerie. Man folgte dem strengen Protokoll von Versailles: Zunächst traten die Edelleute von niedrigerem Stand ein, dann nach und nach die ranghöheren Aristokraten. Jeder von ihnen war in eine Seidentunika gehüllt und trug als Schmuck Elemente aus der Natur. Männer wie Frauen waren vorwiegend grün geschminkt, und manche hatten sich das Gesicht mit einer Sonne oder Frucht bemalt, die sie geheimnisvoll hinter großen Zweigen verbargen.
Matthieu erreichte die Galerie, als gerade die letzte Gruppe eintraf. Der Erste, den er wiedererkannte, war Lully. Er sah aus wie immer und hielt den Dirigentenstab bereit, um bald auf dem Podest den Takt anzugeben. Als der junge Mann ihn betrachtete, wurde ihm klar, wie sehr sich doch die Dinge innerhalb eines knappen Jahres verändert hatten. Nach den Vorfällen in der Orangerie und allem, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren war, empfand er nicht den geringsten Respekt für den Komponisten. Er verspürte aber auch keinen Hass. Er wollte einfach nur nicht mehr Teil seiner Welt sein.
Auf ein Zeichen des Maestros hin stimmten die Streicher die ersten Takte eines Bauerntanzes an. Für die Choreographie war das königliche Ballett zuständig, dessen Tänzer aus einem anliegenden Raum eintraten und sich zur Musik drehten, während Pagen und Damen Blütenblätter auf die Gäste regnen ließen. Das Ensemble trug allegorische Elemente der Jahreszeiten: Die Sicheln und Sensen eines Landmanns und Bündel aus Korn stellten den Sommer dar, Körbe mit Reben und Weinblättern standen für die herbstliche Lese, und als Sinnbild des Winters gab es ein Miniaturmodell der neuen Spiegelgalerie aus Eis.
»Dies ist der Moment, den Frühling willkommen zu heißen!«, rief ein Schauspieler gemäß einem minutiös geplanten Drehbuch aus. Gleichzeitig verschwanden die anderen drei Jahreszeiten hinter einem Vorhang, der im hinteren Bereich der Galerie die Tür zum Friedenssalon verbarg.
Augenblicklich erschien die Frühlingsprozession im Saal. Es handelte sich um eine exklusive Gruppe Tänzer, die in einem symbolischen Akt der Wiedergeburt die Hände in die Luft reckten, sie dann an die Brust pressten und schließlich herzförmig ausschwärmten. Sie waren mit Blumen geschmückt und trugen Papiersilhouetten von Vögeln, sich paarenden Tieren und Wasserströmen. Als Sonne verkleidet schritt der König höchstpersönlich vorneweg. Sein Gesicht erstrahlte vor
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