Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Anlegestelle in der Hoffnung, dass durch die Strömung eine der dort vertäuten Barkassen nahe genug herangetrieben wurde. Er nahm Anlauf und stieß sich mit all der ihm noch verbliebenen Kraft ab. Beinahe hätte er es nicht geschafft, schließlich aber kam er mit dem Fuß am Rand eines Kahns auf und konnte sich an Deck fallen lassen. Die Partitur glitt ihm dabei jedoch aus der Hand.
»Nein …!«, unterdrückte er einen Schrei, als der Wind die Seite davontrug.
Er versuchte, sie noch zu erreichen, indem er auf eines der Warenbündel an Bord kletterte, aber es war schon zu spät. Er musste zusehen, wie das Blatt in den Kanal fiel und die Tinte der Noten im Wasser Schlieren bildete, während sie langsam zerfloss. Nach und nach löste sich Jean-Claudes geheimnisvolle Melodie vom Papier, das, wieder weiß, rasch dem Grund entgegentrudelte.
8
E rst Stunden später nahm Matthieu endlich seinen ganzen Mut zusammen und verließ sein Versteck. In ihm hatte sich inzwischen unglaublicher Zorn angestaut, außerdem war er am Ende seiner Kräfte und vom nicht nachlassenden Regen völlig durchnässt. Der Schmerz über Jean-Claudes Tod schnürte ihm die Kehle zu, so dass er kaum atmen konnte. Es war ihm, als ob er sich mit dem Tod seines Bruders selbst in einen Geist verwandelt hätte, der unsichtbar für alle anderen durch Paris irrte.
Er überlegte, im Haus des Geigenbauers nachzusehen, ob Jean-Claudes Partituren noch da waren, und eine davon mitzunehmen, besann sich beim Gedanken an den verstümmelten Körper auf der Freitreppe jedoch eines Besseren. Er wusste nicht, wer seine Gegner waren. Vermutlich war es klüger, sich zum Palast von Mademoiselle de Guise zu begeben, um mit seinem Onkel zu sprechen. Warum war ihm das nicht schon eher in den Sinn gekommen? Charpentier war zwar ein strenger Lehrmeister gewesen, der seine Zuneigung nur selten zeigte, hatte seinen Neffen aber dennoch stets bedingungslose Liebe entgegengebracht. Wer konnte ihm in so einer Situation also besser raten, was zu tun war?
Als er schließlich die Residenz der Adligen erreichte, konnte er vor Erschöpfung kaum den Arm heben, um den Türklopfer zu betätigen. Das Dienstmädchen informierte ihn darüber, dass Monsieur Charpentier sich nicht in seinen Gemächern befand. Matthieu schickte sich an, wieder zu gehen, da erschien auf einmal der Hausverwalter. Er trug ein Hemd aus grobem Stoff und hatte eine Kerze dabei.
»Folgt mir!«, forderte er den jungen Mann auf.
Sie durchquerten die Eingangshalle und betraten den Dienstbotenbereich. Nachdem ihn die Nachricht des Vorfalls erreicht hatte, war Charpentier ziellos durch den Palast geirrt und schließlich in der Küche gelandet, wo er sich vor aller Welt verbarg. Er hockte mit hängendem Kopf auf dem Fußboden neben der Feuerstelle. Im Kamin war nur wenig Glut, und es war kalt im Raum. Der Verwalter ließ die beiden Männer allein.
»Ich suche die ganze Zeit nach nur einem einzigen Wort, das beschreiben könnte, was ich empfinde«, klagte der Komponist plötzlich.
Matthieu sank neben ihm zu Boden.
Sein Onkel ließ eine leere Flasche über den Boden trudeln, aus der intensiver Schnapsgeruch aufstieg. Das Glas erzeugte auf den Fliesen ein schrilles Geräusch, das einige Sekunden im Raum nachhallte. Charpentier stieß ein nervöses Kichern aus.
»Ich könnte es ja nicht einmal durch Musik zum Ausdruck bringen!«, rief er aus, während sich sein Blick in der dunklen Küche verlor. »Bis heute konnte ich meine Gefühle stets in die Linien des Notenblatts gießen, selbst die kompliziertesten Emotionen. Aber was jetzt mit mir geschieht, ist nicht mehr menschlich. Ich glaube, ich werde nie wieder komponieren.«
»Wer hat das getan?«
»Was weiß ich!«
»Ich denke doch, dass Ihr mit Sicherheit eine Ahnung habt …«
Charpentier wandte sich ihm zu.
»Was willst du damit andeuten?«
»Was führten Jean-Claude und Dr. Evans im Schilde?«
»Wie bitte?«
»Ich meine den Alchemisten, der an den Treffen hier bei Mademoiselle de Guise teilnahm …«
»Ich weiß, wer das ist. Warum redest du in diesem Ton mit mir? Und was hat Dr. Evans mit den Geschehnissen zu tun?«
»Der Engländer ist tot. Ich war mit Jean-Claude verabredet, und er wollte mich zu Dr. Evans mitnehmen, wir kamen aber zu spät. Diese Männer … Ich bin sicher, dass es dieselben waren, die später …«
»Was schert uns das jetzt noch?«, unterbrach ihn Charpentier und ließ den Kopf hängen wie ein trunkener Vagabund.
»Da ist noch etwas
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