Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Hinweisen suchen, die Gott auf der Welt hinterlassen hat, damit auch den Menschen eines Tages seine unendliche Weisheit zuteilwerde.
»Ich glaube nicht, dass Euch noch irgendetwas schaden könnte«, beruhigte ihn der Komponist schon ein wenig gelassener. »Ihr seid doch Fleisch gewordene Wissenschaft.«
Newton schüttelte den Kopf. Er hatte zahlreiche alchemistische Abhandlungen verfasst, deren Entdeckung nicht nur zur Folge haben würde, dass sich die Wissenschaftswelt von ihm abwandte, sondern wohl auch sein sicheres Todesurteil bedeuten würde. Daher unterzeichnete er diese Schriften mit dem Pseudonym Ieova Sanctus Unus, was sowohl ein antitrinitarisches Motto darstellte – Jehova einziger Heiliger – als auch ein Anagramm der lateinischen Form seines Namens – Isaacus Neuutonus – war. Er wandte sich Charpentier mit der für ihn typischen verdrießlichen Miene zu.
»Auf der ganzen Welt weiß niemand, dass ich weitaus mehr über Alchemie geschrieben habe als über all die Wissenschaften, die mir sogroßen Ruhm einbringen. Außer meinem treuen Freund Dr. Evans«, betonte er, »kennt keiner all die verbotenen Aktivitäten, denen ich schon seit Jahrzehnten in meinem Labor nachgehe. Wenn ich auch nur daran denke, wird mir ganz anders. Falls man in Cambridge auch nur von einem einzigen meiner alchemistischen Experimente erfahren würde, wäre meine Professur in Gefahr!«
Charpentier atmete tief durch, sagte jedoch nichts dazu. Er hatte keine Kraft, um jetzt eine Diskussion anzufangen. Aber wie konnte dieser Mensch nur an seine Professur denken, wenn gerade ein junger Mann ermordet worden war und die einzige Person, der er auf dieser Welt vertraute, im Sterben lag?
»Warten wir doch ab, bis sich die Dinge etwas beruhigt haben, und bringen das Experiment dann zum Abschluss«, fuhr Newton fort. »Lebt jetzt einfach weiter wie zuvor. Lasst die Mörder in dem Glauben, Ihr hättet Euch nach dem Tod Eures Neffen dazu entschlossen, Euch von der Melodie lieber fernzuhalten. Sie sollen denken, dass alles vorbei ist.«
»Und das stimmt ja auch.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ich will mit der Sache nichts mehr zu tun haben.«
Newton hockte sich hin und sah ihn eindringlich an.
»Euch wird nichts geschehen. Wer auch immer für diese Verbrechen verantwortlich ist, ist sich zweifellos dessen bewusst, dass es ohne Euch keine Partitur geben wird.«
»Nicht um mich habe ich Angst …«
»Denkt doch daran, was wir an dem Tag erreichen können, an dem wir endlich die korrekte Melodie finden!«, beschwor ihn Newton. »Unser Erfolg wird ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit …«
»Ich kann einfach nicht«, bekräftigte Charpentier.
Der Wissenschaftler erhob sich und ging in der Küche auf und ab, die Hände auf dem Rücken.
»Zwingt mich nicht dazu, auf Eure Hilfe zu verzichten«, bat er auf einmal ganz ohne seine übliche Arroganz. »Als Dr. Evans mir mitteilte, dass Ihr zur Zusammenarbeit mit uns bereit wärt, da wusste ich, dass für uns endlich alle Sterne günstig standen. Wir hatten die Quelle der Melodie und einen Musiker, der dazu in der Lage war, sie niederzuschreiben! Und in nicht allzu ferner Zukunft …«
Jetzt war es Charpentier, der ihn eindringlich ansah.
»Ihr müsst das verstehen – heute ist ein Teil von mir gestorben. Ich werde nie wieder ganz ich selbst sein.«
Der Wissenschaftler atmete geräuschvoll aus.
»Versprecht mir, es Euch wenigstens durch den Kopf gehen zu lassen. Schickt mir in ein paar Tagen eine Nachricht nach England.«
Der Komponist gab darauf lieber keine Antwort. Newton hüllte sich in einen Kapuzenmantel, den er sorgfältig gefaltet auf den Tisch gelegt hatte, auf dem sonst das Brot geknetet wurde, und schritt in Richtung Tür.
»Wartet!«
»Was noch?«
Charpentier schob die Hand in sein Wams und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus.
»Nehmt das lieber wieder an Euch!«
»Was ist das?«
»Euer Manuskript.«
Gemeint war ein alchemistisches Rätsel, das man auf eine Pergamentseite kopiert hatte.
»Aber …«
»Ich habe diese Worte tausendmal studiert und keine einzige vernünftige Bedeutung herausfiltern können. Nehmt das Blatt bitte mit. Ich will nichts in meiner Nähe haben, das mit dem Tod meines Neffen zu tun hat.«
Newton sah ihn lange an.
»Es war ein Fehler zu glauben, dass dieser Text mit der Melodie in Verbindung steht. Es sind nur Verse, einer nach dem anderen. Reine Poesie.«
»Macht Euch doch nichts vor«, entgegnete Charpentier.
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