Das geheime Lied: Roman (German Edition)
anhaben konnte. Unauffällig ging er zu ihr hinüber wie ein Page, der ein paar Stühle zurechtrückte. Er schob sich zwischen den Höflingen durch und flüsterte Nathalie fast unhörbar etwas ins Ohr. Sie konnte ihre Überraschung kaum verbergen. Was machte der junge Musiker, den sie heimlich liebte, an diesem Ort? Le Nôtre begleitete sie zu ihrem Platz. Matthieu kehrte in den hinteren Teil des Saals zurück und kauerte sich zwischen die Orangenbäume. Er stellte fest, dass seine Freundin sich von Zeit zu Zeit nach ihm umdrehte, so als könne sie ihn sehen. Sie kam ihm vor wie ein verlorener Engel auf einem Maskenball.
Der Sonnenkönig erschien am Tor der Orangerie. Angesichts dieses improvisierten Kunstwerks verharrte er einige Sekunden stoisch, unter dem Wams klopfte ihm jedoch das Herz. Er atmete tief durch und hielt dann direkt auf den Thron zu, den man für ihn vorbereitet hatte.
»Lully, mein lieber Lully …«, flüsterte er mit zitternder Stimme und machte es sich auf dem Kissen bequem.
Und dann begann die Vorstellung endlich. Mit der Ouvertüre brach vor den Fenstern des Wintergartens auch das Unwetter los. Matthieu konnte sich nicht erinnern, schon einmal so einen Regenguss erlebt zu haben. Der unerschütterliche Lully konnte die Tränen kaum zurückhalten, als draußen just beim ersten Paukenschlag Blitze zuckten. »Ich weiß, dass ich dafür in Eurer Schuld stehe, Herr«, murmelte er mit einem Blick gen Himmel. Sein an sich schon beeindruckendes Werk wurde durch das Naturschauspiel noch veredelt.
Als die Sopranistin die Bühne betrat, faszinierte ihr Anblick Matthieu. In dem luftigen Kleid, das leuchtete wie ein ganzes Sternbild, kam sie ihm wirklich vor wie eine Fee. Das hier hatte nichts mit der lasziven Nacktheit zu tun, die er sonst bei ihren Treffen zu Gesicht bekam. Er sah sich nach dem verrückten Gilbert um, ihrem Ehemann, der sie von einer Reihe in der Mitte des Saals aus stolz betrachtete. Der Kriegsheld labte sich mit vorgerecktem Kinn am Anblick der Frau, von der er glaubte, dass sie nur ihm allein gehörte wie sein Offizierssäbel, wie die Narbe, die über sein Gesicht verlief.
Virginie breitete die Arme aus und begann zu singen, ihre Stimme verschmolz mit der des Basses, der die Rolle des Alquif verkörperte.
»Mich lockt ein Laut, ihn zu suchen …«
Matthieu bemerkte es sofort.
»Der Zauber ist durchbrochen. Erwachet!«
Der junge Mann traute seinen Ohren kaum.
Er analysierte jede Note, jede Phrase, mit der die Stimme sich über die Streicher erhob.
Lully hatte die Originalmusik durch Matthieus Komposition ersetzt, die er am Morgen nach Jean-Claudes Tod an sich genommen hatte.
»Das ist mein Duett …«, murmelte der junge Mann.
Einer der Pagen, der sich neben ihn gesetzt hatte, sah ihn verständnislos an.
»Das ist mein Duett!«, wiederholte Matthieu und dämpfte seine aufgeregte Stimme. »Das habe ich komponiert!«
Peinlich berührt wandte sich der Page wieder der Bühne zu. Matthieu wurde klar, dass er zu laut gesprochen hatte. Er betrachtete die Stuhlreihen in nächster Nähe, stellte jedoch fest, dass sich keiner der Höflinge gerührt hatte. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte es hinausgebrüllt, aber das war nicht der Moment, um einen Skandal auszulösen. Im Gleichklang trugen Sopranistin und Bass weiterhin ihren Part vor. Matthieu schloss die Augen und presste die Lider aufeinander. Inzwischen war er so aufgeregt, dass er auf seinem Platz unruhig hin und her rutschte. »Es ist das Duett, das ich für meinen Bruder geschrieben habe«, flüsterte er vor sich hin. »Sein Musik gewordenes Andenken!«
Der Page rückte diskret von ihm ab. Matthieu versuchte, sich endlich zusammenzureißen, und ging mit Blicken noch einmal die Stuhlreihen durch. Er war sich sicher, keine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Es hatte wohl niemand etwas bemerkt … außer einem, dessen Gehör dazu in der Lage war, auch die feinsten Zwischentöne wahrzunehmen, und dessen schlechtes Gewissen ihn von der ersten Note des Duetts in Alarmbereitschaft versetzt hatte: Maestro Lully. Während das gesamte Publikum sich den vereinten Stimmen der Sopranistin und des Basses hingab, konnte er sich nicht auf seine eigene Oper konzentrieren und durchbohrte Matthieu von der anderen Seite der Orangerie aus mit Blicken, starrte ihn über den bunten Wald aus Hochsteckfrisuren hinweg an mit jener wutverzerrten Miene, mit der er sonst seine Musiker einschüchterte.
»Warum?«, gab ihn ein am Boden
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