Das geheime Lied: Roman (German Edition)
zeigte ihm dessen Schreiben. Für Monsieur Le Pautre bedeutete das eine Sorge weniger, und er wandte sich achselzuckend von dem jungen Musiker ab.
Matthieu zog sich in ein Grüppchen Orangenbäume in einer Ecke zurück. Er schaute zu, wie die Handwerker im Regen davongingen. Seinen Freibrief schob er sich in die Tasche. Der Tag war gekommen. Endlich durfte er die Erstaufführung einer Oper des großen Lully miterleben, und zwar im selben Raum wie der Sonnenkönig.
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D er König hatte den ganzen Tag lang keine Lust gehabt, aus seinem Versteck hervorzukommen. Man hatte ihn darüber informiert, was Lully vorhatte, aber er hatte keine Minute an den Erfolg dieses Plans geglaubt. Daher kannte seine Überraschung keine Grenzen, als ein Page ihm Bescheid gab, dass alles für die Vorstellung bereit war. Er sprang aus dem Bett, in dem er seit Stunden vor sich hin vegetiert hatte, und ordnete an, dass man ihm seine Kleider bringen möge. Kurz darauf strömte eine Schar von Dienern in den Raum. Die Ungeduld quälte König Louis. Er wusch sich die Hände mit Alkohol, während eine Kammerzofe ihm das Gesicht mit einer Schwanenfeder puderte. Der Großmeister der königlichen Garderobe zog ihm den rechten Ärmel des Nachthemdes aus, der oberste Diener der königlichen Garderobe den linken, und dem obersten Edelmann des Rates wurde die Ehre zuteil, ihm ein in weißen Taft eingerolltes sauberes Hemd zu reichen. Der Herrscher wurde immer nervöser. Das Ritual schien kein Ende zu nehmen. Sein Leibarzt untersuchte den Inhalt des goldenen Nachttöpfchens und stellte es dann auf ein Silbertablett, das zwei andere Adlige – die schon seit Wochen darauf gewartet hatten, endlich einmal diese Aufgabe übernehmen zu dürfen – feierlich aus dem Zimmer trugen. Wie langsam die Pagen doch waren! Warum brachten sie ihm nicht endlich Strumpfhose und Schuhe? Zum Erstaunen aller schminkte König Louis sich selbst die Augen und malte sorgfältig eines seiner Muttermale nach, als setze er nach dieser Pechsträhne einen Schlusspunkt.
Als die Wachen die Türen zur Orangerie öffneten, waren noch die letzten Hammerschläge im Inneren zu vernehmen. Die Geladenen traten ein und folgten dabei einem strengen Protokoll: zunächst die Gäste niederer Abstammung, die sich vor dem Haupttor drängten, das Lully mit frisch gepflückten Blättern und Blüten hatte schmücken lassen. Sie kamen an der Orchesterloge vorbei und hielten auf die Stühle zu, die ihrem Rang entsprechend für sie reserviert waren. Schließlich blieben nur noch Plätze in der Mitte des Raumes frei, die für den König und die Mitglieder seiner Familie bestimmt waren.
Matthieu hätte sich nie träumen lassen, dass es so viele verschiedene Arten von Schmuck gab und all diese Stoffe vielfältiger Texturen und Farben. Der Wintergarten füllte sich mit Kleidern aus Paris, dessen Schneider einen besseren Ruf hatten als diejenigen aus Versailles. Die Männer waren in enge Seidenhosen mit Knöpfen und Schuhe mit Schnallen, Schleifen und roten Absätzen geschlüpft, wie es der Anlass gebot, und hatten sich mit Bändern Spitzenkrawatten um den Hals gebunden. Die Damen hatten sich in Kleider aus Brokat oder Satin und Samt gehüllt, so eng und weit ausgeschnitten wie möglich, und trugen beeindruckende Hochsteckfrisuren und Perücken mit Drahtgestellen im Inneren.
Unter all den angemalten Gesichtern war es nicht schwer, Nathalies ungeschminktes Antlitz zu entdecken.
Er hatte sie nicht wiedergesehen, seit sie sich am Tag von Jean-Claudes Tod hinter der Saint-Louis-Kirche getroffen hatten. Sie war in Begleitung ihres Onkels erschienen, dem Landschaftsgärtner des Königs. Matthieu war wie vom Donner gerührt. Er war daran gewöhnt, die junge Frau in einem schlichten Mieder zu sehen, das den Ansatz der Brüste nur erahnen ließ, und das blonde Haar trug sie sonst offen oder steckte es zu einem schlichten Knoten hoch. An jenem Abend kam sie ihm wie ein ganz anderer Mensch vor. Sie hatte ein enges lilafarbenes Kleid angelegt, das ihre Schönheit nur noch mehr unterstrich und sie beinahe so aussehen ließ, als gehörte sie der königlichen Familie an.
Während er sie betrachtete, wurde dem jungen Musiker auf einmal klar, dass bald Virginie du Rouge die Bühne betreten würde. Das schlechte Gewissen versetzte ihm einen Stich, aber er redete sich selbst schnell ein, dass sein Techtelmechtel mit der Sopranistin der Verbindung, die Nathalie und er durch die Welt der Töne aufgebaut hatten, niemals etwas
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