Das geheime Lied: Roman (German Edition)
unbeeindruckt und wandte sich halb ab, als wolle er schon wieder gehen. »Aber ich habe mir gedacht, dass dies sicher Euch gehört …«
Er zeigte ihm flüchtig das Blatt.
»Das Schema des zweiten Aktes!«, rief der Choreograph empört aus. Matthieu unterdrückte ein boshaftes Lächeln. »Woher hast du das?«
»Es war kurz davor, ein kleines Bad zu nehmen.«
Der junge Geiger wandte den Kopf in Richtung Teich. Der Choreograph nahm das Papier an sich, schloss die Augen und schluckte vernehmbar, bevor er sich die Tänzer vorknöpfte.
»Hat denn keiner von euch bemerkt, dass sich der zweite Akt selbstständig gemacht hat? Jetzt verschwindet und studiert die Änderungen ein«, schrie er auf einmal und reichte einem von ihnen den Zettel mit den Aufzeichnungen. »Ich will euch hier nicht mehr sehen!«
»Es wird sicher alles gut gehen«, verabschiedete sich Matthieu. »Es war mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.«
»Warte!«
»Was kann ich noch für Euch tun?«
Der Choreograph musterte ihn unverhohlen.
»Wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«
»Matthieu Gilbert. Ich bin Violinist.«
»Welchem Orchester gehörst du an?«
»Im Moment muss ich mich damit zufriedengeben, für die vier Wände zu spielen, in denen ich in Kammermusik unterrichtet werde.«
Beide lachten.
»Du hast meinen zweiten Akt gerettet. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …«
»Macht Euch um mich keine Gedanken«, erwiderte Matthieu mit falscher Bescheidenheit. »Es reicht mir schon zu wissen, dass Euer Ballett wie immer ein voller Erfolg wird.«
»Lass uns nach der Aufführung noch einmal darüber sprechen.«
»Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird …«
»Schaust du dir die Vorstellung nicht an?«
»Sagen wir es einmal so, man hat mich nur mit hergebracht, um ein paar Stühle zu schleppen«, erklärte Matthieu spöttisch.
Der Choreograph zog ein weißes Blatt aus der Tasche, notierte darauf etwas und setzte schwungvoll seine Unterschrift darunter. Er reichte Matthieu das Papier.
»Wenn das Material transportiert ist – falls wir es überhaupt je schaffen –, dann such dir ein Plätzchen im hinteren Teil der Orangerie. Wenn dich jemand kontrolliert, erklärst du, dass ich dich persönlich eingeladen habe, und zeigst ihm diese Zeilen.«
Matthieu war sprachlos.
»Darf ich wirklich …«
»Jetzt kümmere dich aber wieder um die Stühle, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Der junge Musiker bedauerte wirklich, seine Euphorie mit niemandem teilen zu können. Das war ja wie ein Traum! Er würde an der Uraufführung von Amadis de Gaule teilnehmen, gemeinsam mit den Höflingen, den besten Musikern des Landes und sogar dem König von Frankreich höchstpersönlich. Er versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Nun hatte er erst recht einen guten Grund, sich nach allen Kräften anzustrengen, damit diese verrückte Idee noch vor Sonnenuntergang verwirklicht werden konnte. Also ließ er die Nymphen und die von Le Nôtre entworfenen Hecken in Spiralform links liegen und konzentrierte sich darauf, alles in seiner Macht Stehende zu tun. Der Tag schritt voran: Mit jeder Minute wurde die Gewitterluft schwüler, seine Hände schmerzten von den schweren Gegenständen, die er trug, und von Zeit zu Zeit überkam ihn ein nervöses Kichern, wenn er daran dachte, welche Wendung die Dinge genommen hatten. Derweil verwandelte sich die Orangerie nach und nach in ein Zauberreich.
Schließlich endete alles in Jubel und allgemeiner Zufriedenheit. Es grenzte fast an ein Wunder, aber es gelang der bunt zusammengewürfelten Arbeitsgruppe, auch das letzte Stück Kulisse herüberzutragen. Inzwischen war Spätnachmittag, und über Versailles hing ein bronzefarbener Wolkenhimmel. Trotz der Erschöpfung begannen die Helfer, wild durcheinanderzureden und sich in die Arme zu fallen. Lully unterbrach die allgemeine Begeisterung. Er zeigte keine übertriebene Höflichkeit, dankte allen mit knappen Worten und bat seine Mitarbeiter daraufhin, den Wintergarten augenblicklich zu verlassen. Der Kammermusikmeister kam zu Matthieu herüber und bat ihn, gemeinsam mit den anderen zurückzukehren.
»Sicher kann dich eine Kutsche nach Paris mitnehmen«, sagte er zu seinem Schüler. »Mir bleibt leider keine Zeit mehr, noch heimzufahren. Wie ich bloß aussehe!«, klagte er, während er an sich hinunterblickte. »In diesem Aufzug wirke ich ja noch älter, als ich ohnehin schon bin.«
Matthieu erzählte ihm von seinem Zusammentreffen mit dem Choreographen und
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