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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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eine Rüge. Es ärgerte ihn, bis zum nächsten Tag warten zu müssen, er war aber zu aufgeregt, um seinen Berater jetzt anzuschreien.
    »Lasst seine …« – er verstummte einen Moment – »seine vorläufige Freilassung anordnen.«
    »Vorläufig?«
    »Die Öffentlichkeit soll annehmen, er sei noch hinter Schloss und Riegel. Schließlich wird er auch bald in sein dunkles Loch zurückkehren.«
    Louvois unterdrückte ein verschlagenes Lächeln.
    »So soll es sein.«

18
    I n der Nähe der Cité blickte Charpentier aus dem Kutschenfenster. Er wies den Fuhrmann an, vor dem Hôtel-Dieu zu halten, dem alten Krankenhaus, in das Dr. Evans nach dem Angriff auf dem Markt gebracht worden war. Er hatte Newtons Anweisung Folge geleistet und sich dem Hospital bislang ferngehalten, jetzt aber, da er mit seinem Plan Ernst machte, musste er dem Engländer seine Entscheidung mitteilen. Er konnte Dr. Evans nicht in dem Glauben sterben lassen, alles sei umsonst gewesen. Danach würde er dem Wissenschaftler schreiben. Newton würde sich am meisten darüber freuen, dass er seine Meinung geändert hatte, selbst wenn er durch die neue Entwicklung Wissen und Ruhm mit dem Sonnenkönig teilen musste.
    Die Tür des Krankenhauses stand offen. Er sprach am Eingang mit einer der Augustinerschwestern, die es führten.
    »Monsieur Evans, der Engländer? Sein Zustand wird immer schlimmer«, informierte sie ihn. »Er fantasiert den ganzen Tag im Fieberwahn.«
    Charpentier wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
    »Ich möchte ihn gerne sehen.«
    Er betrat das Gebäude zum ersten Mal. Kaum hatte er die ersten Gänge durchschritten, bat er Gott im Himmel, diese Welt einst verlassen zu können, ohne vorher auf dem Krankenbett dahinzusiechen. Erst vor kurzem hatte Ludwig XIV . die furchtbaren mittelalterlichen Lepraspitale abgeschafft, Charpentier hatte jedoch den Eindruck, im schrecklichsten von allen gelandet zu sein. In jedem Raum standen vier Reihen Betten, ein Altar und ein Esstisch. Die Ordensschwestern kümmerten sich unter Leitung eines Apothekers und einiger Badergehilfen um die Kranken. Sie kamen an einem Bett vorbei, auf dem Hebammen, die nicht zum Orden gehörten, einer Frau bei der Geburt assistierten. Es herrschte eine Art Gefängnisdisziplin, umrahmt von Wehklagen und eiternden Wunden. Die Behandlung der Patienten bestand aus Schröpfen und Einläufen, außerdem verabreichten die Apotheker jenen verschiedene Mittelchen, die sie dieses Aufwands für würdig erachteten. Die Sterbenden erhielten auf ihrem Bett die Letzte Ölung und wurden dann weitestgehend ignoriert, bis sie ihr Leben endlich aushauchten.
    Charpentier folgte der Nonne bis in eine Ecke, in der Dr. Evans untergebracht war. Eine Krankenschwester hielt ihm den Kopf hoch, während sie versuchte, ihm einen dicken Brei einzuflößen. Der Engländer roch nach Tod. Am linken Handgelenk baumelte ein Kärtchen mit seinem Namen. Auf Höhe des Unterleibs zeichnete sich auf dem Laken ein blutiger Fleck ab. Über den Lidern trug er eine Binde, weil er durch die brutalen Schläge sein Augenlicht verloren hatte. Essensreste flogen durch die Luft, da er hastig vor sich hin redete, als bliebe ihm für all das, was er noch zu sagen hatte, viel zu wenig Zeit. Die Infektion der Wunde griff auf sein Hirn über und suggerierte ihm Dinge, die gar nicht da waren, weshalb er Absurdes stammelte. Charpentier war aber klar, dass es sich nicht bei allen Fantasien, die sich wirr aus seinem Mund ergossen, um Halluzinationen handelte. Die Schwester ließ sie allein. Wie Nebelschwaden hüllte der Atem des Kranken das Bett ein.
    »Doktor, ich bin es.«
    Der Engländer schreckte aus seiner Lethargie auf. Mit einer unwillkürlichen Geste versuchte er, sich die Binde von den Augen zu streifen, ließ jedoch augenblicklich die Hände wieder auf die Matratze sinken und seufzte, als ob diese kleine Bewegung seine letzten Energiereserven verbraucht hätte.
    »Ich werde sterben.«
    »Vielleicht gibt es noch die Möglichkeit …«
    »Einem Arzt könnt Ihr nichts vormachen«, widersprach Dr. Evans mit einem plötzlichen Anflug von Arroganz. Charpentier wurde klar, dass es nichts brachte, die Situation schönzureden. »In Wirklichkeit bin ich ja schon längst tot. Und bald werde ich nichts weiter sein als ein Bündel Knochen im Armengrab.«
    »Sagt doch so etwas nicht.«
    »Wie recht mein Meister hat«, rief er auf einmal aus und trug ein makabres Grinsen zur Schau. »Wer kann derart töricht sein zu glauben, dass

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