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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Blick.
    »Man hat mir damit gedroht …« Er verstummte kurz. »Sie werden meinen Bruder und dessen Frau umbringen, wenn ich ihnen die Melodie nicht beschaffe.«
    Matthieu traute seinen Ohren kaum.
    »Meine Eltern …« Mehr brachte er nicht hervor.
    »Hattet Ihr etwa vor, diesen Mördern die Melodie zu übergeben?«, kreischte der König empört.
    »Ganz gewiss nicht, Majestät«, rechtfertigte sich der Komponist rasch. »Ich wollte nur nicht, dass mein Neffe etwas davon erfährt. Ich schwöre Euch, dass ich Euch darüber so bald wie möglich in Kenntnis gesetzt hätte. Majestät, nur Ihr könnt meiner Familie den Schutz bieten, den sie braucht.«
    »Wer sind diese Bastarde?«, schrie der Herrscher. »Wer wagt es, mich so zu provozieren? Diese Melodie gehört mir. Mir!«
    »Majestät, diese Männer wissen ja nicht, dass ich Euch aufgesucht habe …«
    »Und das dürfen sie auch nie erfahren«, griff Louvois beruhigend ein. »Schreibt einfach die korrekte Partitur auf, und wir finden schon einen Weg, die Angelegenheit zu klären.«
    »Da ist noch etwas …«, gab Charpentier zu bedenken.
    »Mein Gott!«, rief der König aus.
    »Sie haben von mir verlangt, dass ich der Melodie vor der Tagundnachtgleiche im März habhaft werde.«
    »Aus welchem Grund?«
    »Ich weiß es nicht«, musste Charpentier mit hängendem Kopf zugeben.
    In der Stille, die sich jetzt ausbreitete, versuchte jeder der Männer, die Bedeutung dieser unerwarteten Wendung einzuschätzen. Der König strich mit dem Finger über die Edelsteinintarsien in dem Tablett, auf dem er unterschriebene Dokumente abzulegen pflegte, und versuchte, sich seine Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen.
    »Dann mache ich es eben«, sagte Matthieu auf einmal.
    »Wie bitte?«
    Die anderen schauten ihn verblüfft an. Matthieu wusste ja selbst nicht einmal, warum er das gesagt hatte.
    »Ich gehe«, bekräftigte er noch einmal.
    »Aber …«
    »Alle glauben, dass ich noch immer im Kerker sitze, daher wird mein Verschwinden keine Aufmerksamkeit erregen.« Jetzt wandte er sich zum ersten Mal an den Souverän. »Eure Majestät, erlaubt mir bitte …«
    »Du gehst nirgendwohin«, unterbrach ihn Charpentier. »Majestät, vergesst bitte diese absurde Idee meines Neffen …«
    »Ruhe!«, schrie der König und verharrte einen Moment nachdenklich. Er ergötzte sich an Matthieus Wagemut. »Mein hochgeschätzter Lully würde es zwar niemals zugeben, aber mir ist zu Ohren gekommen, dass du eine besondere Begabung für das Geigenspiel hast. Was kannst du dazu sagen?«
    »Ich bin der beste Violinist Frankreichs«, antwortete Matthieu unverzagt.
    Der Herrscher konnte sich ein zufriedenes Lachen nicht verkneifen.
    »Majestät«, flehte Charpentier verzweifelt, »mein Bruder hat bereits ein Kind verloren …«
    »Ich kann es schaffen, Onkel«, beteuerte Matthieu mit gedämpfter Stimme. Er durfte jetzt auf keinen Fall laut werden.
    Einen Moment lang richtete der Souverän den Blick nachdenklich in eine dunkle Ecke des Raumes.
    »Bringt eine Geige!«, rief er schließlich.
    »Eine Geige?«, wunderte sich Louvois.
    »Muss ich das vielleicht zweimal sagen?«
    Einer der Lakaien an der Tür rannte davon und kehrte kurz darauf mit dem Instrument eines der Musiker zurück, die den Höflingen den Abend versüßten.
    »Gib sie Matthieu.«
    »Wollt Ihr, dass ich für Euch spiele?«
    »Ja, aber etwas ganz Bestimmtes.«
    Matthieu sah ihn furchtlos an.
    »Trefft Eure Wahl!«
    »Am Abend der Uraufführung hast du in der Orangerie geschworen, dass du das Duett für den Amadis komponiert hast.«
    »Und dabei bleibe ich auch.«
    »Spiel es.«
    Den Musiker überkam es eiskalt.
    »Jetzt?«
    »Wenn es wirklich dein Werk ist, spricht doch nichts dagegen.«
    Er hatte das Stück nicht wieder interpretiert, seit er es in der Nacht von Jean-Claudes Tod komponiert hatte und danach am Tisch in Lullys Arbeitszimmer zusammengebrochen war. Er griff nach dem Instrument. Langsam strich er darüber, um die Dicke des Holzes abschätzen zu können, und zupfte sanft an den Saiten.
    »Ich warte«, drängte der König.
    Matthieu legte sich die Violine auf die Schulter und schloss die Augen. Von dem Moment an, als der Bogen die erste Note freigab, spürte er, wie sich Jean-Claudes Hand über die seine legte und ihm dabei half, dem Fluss der Melodie zu folgen. Dieses Duett war der goldene Faden, der sie weit über Leben und Tod hinaus unwiderruflich miteinander verband. Während er spielte, erhellte für kurze Zeit ein friedliches

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