Das Geheimnis am goldenen Fluß
und mit all den Übungsmöglichkeiten, die sich ihm in Saigons Chinatown boten, hatte es nicht lange gedauert, bis er ihre Zweitsprache fast fließend beherrschte. Und das war nur ein Teil der Überraschung gewesen: Im Anhang des Gedichts hatte er sie – auf Chinesisch – gebeten, seine Frau zu werden.
Sie war auf ihrem Bett herumgehüpft, bis die Leisten durchgebrochen waren. Dann hatte sie ihm eilig einen Brief geschrieben und ihn ihrerseits überrascht: »Mi amor, te llevo en el alma. Por supuesto te voy a casar – Liebster, ich trage Dich in meiner Seele. Na türlich möchte ich Deine Frau werden.« Sie hatte bei einem Privatlehrer ein Jahr lang Spanischunterricht genommen, und mittlerweile beherrschte sie seine Zweitsprache halbwegs fließend. Es war genau diese Art von Synchronismus, die ihrer Beziehung vom ersten Tag an Flügel verliehen hatte.
Aber später in jenem Sommer war Gib im Gefecht getötet worden. Danach hatte Mason ihr keine Briefe mehr geschickt.
Sechs Monate später war Mason in die Staaten zurückgekehrt, und sie hatten in der kleinen Stadtbücherei in Indian Mound Beach geheiratet. Aber er war nicht mehr Mason gewesen. Nicht der Mann, der sie am Strand geliebt hatte; oder auf dem Ponton eines Katamarans; oder im warmen Sommerregen auf dem Aussichtsdeck des Leuchtturms; oder auf den kühlen Steinfliesen im Gartenhaus, wo sich der Jasmin mit ihren Körperdüften vermischt hatte; oder, oder, oder …
Und er war nicht länger der Mason, mit dem sie bis zum Morgengrauen über Whitman, Klimt, Ellington und Ailey und die universalen Imperative der Poesie, Malerei, Musik und Tanzkunst diskutiert hatte.
Sie dachte an den Abend, als sie in ihrem Liebesnest im Leuchtturm eine Flasche vom besten Gabernet ihres Vaters getrunken hatten. Der Vollmond verströmte sein silbriges Licht übers Meer; sie beobachteten Delfine, die Wasser ausprusteten und wieder in die Fluten eintauchten. »Ich glaube, Delfine verehren eine Göttin«, hatte er leise gesagt, während sein stoppeliges Kinn an ihrer sommersprossengesprenkelten Schulter kitzelte. »Ihre Göttin hat ein Blasloch auf ihrem immer lächelnden Gesicht.«
Das war der echte Mason Drake.
Der Mann, der aus Vietnam zurückgekehrt war, hatte vor Trauer sein Herz verschlossen. Bei ihrer Scheidung hatte er nicht eine Träne vergossen, sie hingegen genug für sie beide.
Schmerz holte Tree in die Gegenwart zurück. Mit jedem Pulsschlag flammte das Feuer in ihrer Hand auf. Der Weg fiel jetzt steil ab. An einigen Stellen waren die Stufen von Hand geschlagen, doch der überwiegende Teil des Weges folgte natürlichen Furchen und Felsvorsprüngen. Schatten tanzten über die unebenen Wände. An einer Stelle schlängelte sich die Gruppe durch einen Wald mit riesigen, piniengroßen weißen Kristallen, die wie überdimensionale Lutschstangen aus dem Boden ragten.
Tree hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als sie einen niedrigen Steintunnel durchquerten, hinter dem sich die Decke plötzlich zu einem falschen Himmel öffnete. Sie hatten eine Höhle betreten, die hoch genug war, um den Eiffelturm hineinzustellen. Der Boden war eben, und am gegenüberliegenden Ausgang schimmerte ein heller Lichtball.
Als sie aus der Höhle kamen, sah Tree, dass sie direkt unter dem Wasserfall standen. Nach seinem mehrere hundert Meter tiefen Fall hatte er jedoch an Wucht verloren und war nichts weiter als ein mittelschwerer Regenschauer. Eine Soldatin hielt ihr ihren Schutzschild über den Kopf, und sie wateten durch einen breiten, flachen Fluss, der unter dem permanenten Guss weiß schäumte.
In einiger Entfernung ragte eine massive Steinmauer auf, so hoch wie der sie umgebende Hartholzwald. Die Gruppe trat in einen duftenden grünen Tunnel, der von überlappenden, badewannengroßen Blättern der Elefantenohr-Pflanze gebildet wurde. Paradiesvogel-Gewächse spreizten im wabernden feuchten Dunst ihre Blüten. Wilde Orchideen, manche groß wie Milchkübel, andere winzig wie Fingerhüte, leuchteten in allen Regenbogenfarben. Der Tunnel führte unter hoch aufragenden Mahagoni-, Ebenholz- und Teakbäumen hindurch, und jeder einzelne Baum war ein Garten für sich, die Äste überwuchert mit üppigen Moospolstern, Farnen, Baumflechten, Begonien, Bromelien, Philodendren.
Tree war überwältigt von all den verrückten Farben und Düften, während die Botanikerin in ihr begann, die einzelnen Spezies zu katalogisieren. Einen Teil der Flora kannte sie: Goldturmbäume, Waldveilchen,
Weitere Kostenlose Bücher