Das Geheimnis der Götter
allen vier Himmelsrichtungen um den Baum des Lebens gepflanzt waren. Zu seiner großen Überraschung befand sich kein Wächter, kein Ritualist und auch kein Zeitweiliger an diesem Ort. Er schien als so sicher zu gelten, dass er keiner menschlichen Bewachung bedurfte.
Als der Prophet weiterging, traf er auf einen Schrein mit vier Löwen, die Rücken an Rücken saßen. In ihrer Mitte war ein mit zwei Straußenfedern – dem Zeichen für Maat –
geschmückter umwickelter Pfeiler.
Er setzte sich in Schreiberhaltung, um besser nachdenken zu können. Die Ägypter waren sehr geschickt im Umgang mit den Gedanken und wussten, welche Körperhaltung sie ungehindert fließen ließ. Richtete man sich danach, fühlte sich jeder Weltliche unweigerlich zum Heiligen hingezogen. Nur er, der Prophet, war gegen alle derartigen Einflüsse unempfänglich. Als Einziger im Besitz der göttlichen Botschaft griff er nach den Waffen des Feindes und verwandte sie gegen ihn. Die Löwen und die vier Akazien: Diese keinesfalls zufällige Anordnung bildete offensichtlich ein Kräftefeld. Wollte man dieses Feld durchqueren, bedurfte es bestimmter Sprüche. Und obwohl sie der Prophet nicht kannte, musste er dieses Feld wirkungslos machen.
Wo konnte er die erforderlichen Hinweise entdecken, wenn nicht im Inneren des Tempels. Die Sätze, die Sesostris hatte aufschreiben lassen, würden ihm vermutlich diese wertvollen Hinweise liefern. Entsprechend ausgerüstet, wollte er dann den Baum des Lebens angreifen.
Der Prophet kehrte wieder in den Bereich zurück, für den er eingesetzt war, und nahm die Anweisungen seines Vorgesetzten entgegen. Als er hörte, dass jemand erkrankt war, schreckte er nicht davor zurück, dessen Dienst für diese Nacht zu übernehmen – eine Nacht, die sehr geeignet war, um die Wandmalereien zu entziffern und nach den Worten der Macht zu suchen.
Der Prophet wartete, bis er allein war. Für seine Erkundung hatte er sich zwei Alabasterschalen beschafft. Falls ihn jemand überraschen sollte, hätte er eine überzeugende Erklärung für seine Anwesenheit: Er müsse die kostbaren Gefäße reinigen, ehe er sie auf einen Altar stellen konnte.
Die eindringliche Spiritualität, die an diesem Ort herrschte, störte ihn. Jede Gestalt in Hieroglyphenform wies ihn ab, jeder Stern, der an die Decke gemalt war, leuchtete feindselig. Und seine Ahnung wurde nur bestärkt: Weil die Weisen den Menschen kein Vertrauen schenkten, verwendeten sie Sinnbilder zum Schutz des Gebäudes.
Ein gewöhnlicher Zauberer hätte die Flucht ergriffen. Verwundet und geknebelt, zeigte der Prophet seine Fänge und seinen Falkenschnabel. Der Zauber der Zeichen glitt über sein Raubvogelkleid, ohne es zu verbrennen.
Immer noch auf der Hut erforschte der Prophet die Darstellungen und las die Worte der Götter und des Pharaos genau.
Opfergaben und wieder Opfergaben, immer neue
Opfergaben… Und eine ewige, sich ständig wiederholende Vereinigung des Jenseits mit dem König, durch die man ihm Millionen Jahre und eine unendliche Folge belebender Feste versprach.
Der Verkünder des neuen Glaubens würde diesen spirituellen Diensten ein Ende machen. In seinen Himmel durften nur Krieger, die bereit waren, sich für die Verbreitung ihres Glaubens zu opfern und Opfer zu bringen – seien es auch Tausende von Menschen. Dann würden die Götter für immer und ewig Abydos und den ägyptischen Boden verlassen und Platz machen für den einzig wahren Gott, den Rächer, dessen Wille uneingeschränkt galt.
Trotz seines scharfen Blicks konnte der Prophet nichts entdecken, was ihm geholfen hätte, den magischen Schutz um den Baum des Lebens zu durchdringen.
Aber er war geduldig und gab sich nicht so schnell geschlagen.
Als er vor den mächtigen Statuen stehen blieb, die den Pharao als Osiris mit vor der Brust verschränkten Armen und den typischen zwei Zeptern in der Hand zeigten, überzog ein Lächeln sein Gesicht.
Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Alles hier war vom Geist Osiris’ durchdrungen, alles kam von diesem Gott und kehrte zu ihm zurück.
Er hatte soeben die Schlüssel entdeckt!
Eine raue Stimme ließ ihn hochfahren.
Versteckt hinter der halb geöffneten Tür einer Seitenkapelle konnte er beobachten, wie der Kahle und Iker den Platz mit den Osiris-Säulen betraten. Sollten sie ihn entdecken, wäre der Ausgang dieses Kampfes ungewiss. Im Augenblick war der Falkenmann von den Hieroglyphen geschwächt und verfügte nicht über die gewohnten
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