Das Geheimnis der Götter
Dann wollte er die vier Löwen angreifen.
Iker erlebte noch einmal jeden einzelnen Augenblick seiner Einweihung in das Goldene Haus, das noch immer leuchtete. Wie konnte ein gewöhnlicher Mensch nur so viele Ebenen wahrnehmen und die vielfältigen Bedeutungen der Zeichen verstehen? Vielleicht indem er sie nicht untersuchte und zu zerlegen versuchte, sondern sie mit dem Herzen begriff und einfach immer weiter in den Mittelpunkt des Mysteriums vordrang.
Die Welt lässt sich nicht erklären, trotzdem hat sie einen Sinn. Eine alles überdauernde Bedeutung, die aus ihr selbst entspringt und weit über die Grenzen des menschlichen Daseins hinausgeht. Das aus den Sternen geborene, bewusst gewordene Leben kehrte dank seiner Initiation dorthin zurück. Und er, der Schreiberlehrling aus Medamud, hatte gerade eine Pforte durchschritten, die ihn in sagenhafte Landschaften führte.
Isis war sehr früh aufgestanden, um mit den Dienerinnen der Hathor ein Ritual zu feiern. Seit sie das Goldene Haus verlassen hatte, in dem die Statue und die Barke von Osiris neue Kräfte schöpften, war sie sehr schweigsam. Weil sie ähnliche Prüfungen wie Iker bestanden hatte, wusste sie, wie wichtig es war, sich nach diesen derart eindrucksvollen Erlebnissen sammeln zu können. Der Eingeweihte
versammelte dann in sich eine Vielzahl unterschiedlicher Kräfte, die zur Entstehung einer neuen Sichtweise führen sollten.
Nach und nach kehrte Iker wieder zur Erde zurück, vergaß
dabei aber nichts von seiner Reise ins Jenseits von Zeit und Raum. Als er das bescheidene weiße Haus verließ, blickte er lange zum Himmel auf, den er nie wieder so wie früher wahrnehmen würde. Von diesem Sternenmuster stammten die unsterblichen Werke, die Handwerker sichtbar machten. Leider gab es auch noch eine andere Wirklichkeit, die ihn weit weniger begeisterte und der sich der Königliche Sohn, Einzige Freund und Gesandte des Pharaos zu stellen hatte.
»Verdorbene Milch und schlechtes Brot«, beklagte sich Bega.
»Sieh zu, dass du den ständigen Priestern nicht noch einmal minderwertige Lebensmittel lieferst. Sollte sich einer von ihnen beschweren, wirst du weggeschickt.«
Die hübsche Bina warf den Kopf zurück.
»Ist dein Geschmack etwa maßgeblich?«
»Hier achtet ihn jedenfalls jeder.«
»Dann ist das vielleicht der Grund, warum Abydos so verkommt!«
»Reiß dich zusammen, du dummes Ding, und erledige deine Arbeit ordentlich.«
Bega hasste die Frauen. Unzüchtig, anmaßend, verführerisch und verkommen litten sie an tausendundeinem unheilbaren Laster. Sobald er an die Macht kam, wollte er sie aus Abydos verjagen und ihnen die Teilnahme an Ritualfeiern und Gottesdiensten verbieten. Keine einzige Priesterin würde mehr mit ihrer Gegenwart die Tempel Ägyptens besudeln, die den Männern vorbehalten wären. Denn sie allein waren würdig, sich an den Himmel zu wenden und in den Genuss seiner Gunst zu kommen. Insofern fand er die Lehre des Propheten hervorragend: Er wollte den Frauen alle geistlichen Ämter entziehen, ihnen den Schulbesuch untersagen, ihren Körper von Kopf bis Fuß verdecken, damit sie das andere Geschlecht nicht mehr verführen konnten, und sie auf die häuslichen Aufgaben im Dienste ihrer Ehemänner beschränken. Die pharaonische Gesellschaft hatte ihnen derart viele Freiheiten gewährt, dass sich die Frauen wie unabhängige Wesen aufführten und sogar herrschen durften!
Bina sah den alten Ritualisten verächtlich an. »Willst du nun essen und trinken, oder soll ich die Milch und das Brot wieder mitnehmen?«
»Diesmal mag es gehen, aber morgen verlange ich etwas Besseres… Nun geh schon, beeil dich, Iker kommt!«
Schnell war sie verschwunden.
Bega beugte sich über seine Mahlzeit und tat so, als nähme sie ihn ganz in Anspruch.
»Entschuldigt bitte, dass ich Euch zu so früher Stunde störe.«
»Wir alle hier stehen dem Königlichen Sohn zur Verfügung. Habt Ihr schon gefrühstückt?«
»Nein, noch nicht.«
»Dann lade ich Euch zu meinem bescheidenen Mahl ein.«
»Nein, danke, ich habe keinen Hunger.«
»Seht zu, dass Ihr nicht noch krank werdet!«
»Keine Angst, die Prüfungen der letzten Tage haben meine Gesundheit gestärkt.«
»Erlaubt mir, Euch zur Einweihung in das Goldene Haus zu beglückwünschen. Dieses Vorrecht wird nur wenigen zugestanden und verleiht Euch große Verantwortung. Außerdem sind wir sehr stolz, dass Ihr die Ritualfeiern für den Monat Khoiak leiten werdet.«
»Der Zeitpunkt erscheint mir viel zu
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