Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
Vom Netzwerk:
ihr zu warten. Der Junge sagte gar nichts mehr, sein Blick schoss von seinem Vater zu mir und dann zu seinen eigenen Füßen, mit denen er unter dem Tisch hin und her pendelte. Das Essen interessierte ihn nicht im Geringsten. Ich kaute tapfer. Allerdings hatte ich nicht viel mehr Appetit als Revere, wie mir schien, und der Verband verstärkte meine sonstige Unbeholfenheit.
    Was macht man bei solch einer Mahlzeit?, fragte ich mich. Wie muss man sich verhalten? Im Gegensatz zu Laure und Großmutter war ich ohne den sechsten Sinn dafür auf die Welt gekommen. Es passierte manchmal, dass ich mich ernsthaft danebenbenahm, ohne es zu merken. Ich lobte das Essen. Da konnte ich nicht viel falsch machen, und Kitty schien sich zu freuen. Dann sagte ich, dass mir das Haus sehr gut gefalle. Unerträglich langweilige Worte kamen mir über die Lippen! Und die Puppen, hörte ich mich selbst sagen, die Puppen auf dem Treppenabsatz seien wirklich besonders hübsch.
    Bestimmt würde Howlett mir gleich etwas an den Kopf werfen – eine Gabel voll Erbsen, ein Brötchen, irgendetwas, nur um mich zum Schweigen zu bringen. Was hätte ich darum gegeben, wieder über Medizin sprechen zu können! Ich wollte mehr über seine Arbeit an der Johns-Hopkins-Universität erfahren und über die Unterschiede, die er zwischen der medizinischen Praxis in Baltimore und Montreal beobachtete. Er schrieb gerade ein Lehrbuch. Er unterrichtete. Es gab Hunderte von spannenden Dingen zu besprechen. Ich blickte auf, aber Howlett kaute zufrieden. Zu meiner Verblüffung lächelte Kitty mir freundlich zu. Sie war sogar so entzückt, dass sie beschloss, mich zu belohnen, indem sie die Konversation auf ein Thema lenkte, das mich ihrer Ansicht nach bestimmt interessierte.
    »Willie ist sehr dafür, dass Frauen Medizin studieren.« Diese unverbürgte Bemerkung kam aus heiterem Himmel durchs Speisezimmer gesegelt. Eine Kerze tropfte auf die glänzende Tischplatte. Kitty wusste offenbar nichts über meine Vergangenheit und dass ich ihrem Ehemann schon einmal begegnet war. Während sie die Kerze aufrichtete, nahm sich Howlett eine zweite Portion.
    »Wir sind dazu uneingeschränkt fähig«, sagte ich vorsichtig. Ich war mir nicht sicher, was Howlett wirklich über diese Frage dachte, und ich kannte Kitty nicht gut genug, um ihre Einstellung zu erahnen. »Wir können genauso intelligent sein wie Männer.«
    Kitty nickte, allerdings mit leicht gerunzelter Stirn. »Ja, aber ich bin skeptisch wegen der enormen Wissensmenge. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, all die Dinge zu erfahren, die Sie lernen mussten.«
    »Aber das ist doch gerade der Sinn der Sache«, erwiderte ich. Kitty hatte einen Nerv getroffen. »Das Wissen ist genau der Grund, warum ich es tue.«
    Howlett hob die Augen von seinem Teller, ein langsamer, warnender Blick.
    Die Kerzen warfen überall im Zimmer tanzende Schatten. Kittys Gesicht wirkte plötzlich älter, hagerer. Sie schaute mich nicht mehr an. »Letztes Jahr gab es hier ein Mädchen«, sagte sie. »Du erinnerst dich bestimmt an sie, Willie. Dieses jüdische Mädchen. Stein hieß sie, glaube ich.«
    »Sie war außergewöhnlich«, sagte Howlett.
    »Sie sind alle außergewöhnlich. Aber diese junge Frau bestand ganz und gar aus Gehirn. Kein Herz, keine Anmut. Sie hatte nichts außer ihrem Intellekt. Sie war absolut anomal.«
    »Na ja«, entgegnete Howlett. »Das ist ein bisschen übertrieben.«
    Kitty lachte. »Du hast recht. Ich klinge altmodisch, nicht wahr? Aber Miss White ist ganz anders. Deshalb habe ich das Beispiel genannt. Sie besteht nicht nur aus Gehirn. Sie ist offensichtlich wohlerzogen.«
    Ich fühlte mich wie bei einem Tennismatch – ich schaute zu, wie der Ball von einer Seite des Tisches zur anderen hüpfte, und wagte es nicht, mich einzumischen.
    »Dr. White ist intelligent«, sagte Howlett lächelnd. »Das kann ich nur bestätigen.«
    »Selbstverständlich ist sie das«, erwiderte Kitty. »Aber sie mag auch Puppen.«
    Das Blut stieg mir in die Wangen. Prüfend musterte ich Kittys Gesichtsausdruck, konnte aber keine Spur von Ironie entdecken.
    »Guinevere Stein hat die Puppen gar nicht bemerkt, als sie zum Essen hier war«, fuhr sie fort.
    »Gertrude«, verbesserte Howlett seine Frau. »Gertrude Stein.« Und an mich gewandt fügte er hinzu: »Eine seltsame Person mit höchst eigenwilligen Ansichten, die sie immer im unpassenden Augenblick vorbringen musste. Vergangenes Frühjahr wurde sie gebeten, sich

Weitere Kostenlose Bücher