Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
vervollständige das Bild.«
Fandorin rief sich ins Gedächtnis, was ihm Teilnehmer der Jagd erzählt hatten.
»Als die Treiber die Auerhähne aufscheuchten (dafür gibt es einen speziellen T-Terminus, ich erinnre mich nicht), hat ein junger Mann, der zusammen mit Borowski aufgestellt war, aus Versehen zu tief gezielt und dem Ärmsten eine Schrotladung in den Hinterkopf gejagt. Ich glaube, der Unglücksschütze heißt Kulebjakin,richtig?« Der Oberpolizeimeister nickte. »Was noch? Mir wurde e-erzählt, dass Kulebjakin nach einem Champagnerfrühstück recht angeheitert war. Wahrscheinlich erklärt sich daraus dieser ungeheuerliche Fehlschuss. Was hat Ihr Interesse an dieser traurigen, aber nicht außergewöhnlichen Geschichte geweckt? Was für Umstände haben sich ergeben?«
»Ein Augenzeuge hat sich gemeldet«, sagte Schubert mit einem schweren Seufzer. »Ihm gefällt wohl nicht, was für eine Wendung die Geschichte nimmt. Vorgestern, als das Unglück passierte, wurde nicht einmal die Polizei gerufen. Der Fall war klar, die Creme der Gesellschaft, und schließlich, weshalb die Polizei rufen, wenn ihr oberster Chef mit von der Partie war?«
Schubert lachte und rieb sich verlegen die Schläfe.
»Ich fürchte, mir ist ein Schnitzer unterlaufen. Ich komme ja von der Garde, habe mich früher nie mit Polizeidingen befasst. Darum habe ich auf meine Weise entschieden: Ich habe Herrn Kulebjakin gebeten, im Hotel zu bleiben, solange die Untersuchungen laufen, weiter nichts.«
»Er wohnt im H-Hotel?«
»Im Dussault. Der junge Mann stammt aus Petersburg, ist nur für kurze Zeit nach Moskau gekommen, in Vermögensangelegenheiten. Er ist der Neffe und einzige Erbe von Iwan Kulebjakin, dem bekannten Industriellen. Wie Sie vielleicht aus der Zeitung wissen, ist sein Onkel vor zwei Wochen gestorben, und der junge Mann ist im Begriff, das gewaltige Vermögen zu übernehmen. Junggeselle, passables Aussehen, märchenhaft reich. Natürlich reißt man sich in Moskau um ihn: Festessen, Bälle, Jours fixes, Brautschauen. Zur großen Jagd wurde er selbstredend auch eingeladen. Er lebt auf großem Fuß. Hat sich in einem Fünfzig-Rubel-Zimmer mit Springbrunnen eingemietet, wirft mit dem Geld nur so um sich. Verständlich bei einem derartigen Reichtum. Am Sonntag war er schon morgens beschwipst – das wurde Ihnen richtigerzählt. Und als die Jäger paarweise aufgestellt wurden, griff er auch zur Flasche – das habe ich selbst gesehen …«
»Warum reden Sie nicht weiter? F-Fahren Sie fort …«
»Natürlich ist niemandem in den Sinn gekommen, einen Vorsatz zu vermuten. Urteilen Sie selbst, warum sollte Kulebjakin in seiner Lage das tun? Habgier? Lächerlich. Persönliche Rechnungen? Er hat den Fürsten Borowski erst eine halbe Stunde vor der Tragödie kennengelernt. Ich habe herausgefunden, dass Baron Norfeldt sie miteinander bekannt gemacht hat. Gleich bei den ersten Worten zeigte sich, dass beide – der Fürst wie auch Kulebjakin – leidenschaftliche Theaterliebhaber waren; zwischen ihnen entspann sich ein angeregtes Gespräch, und sie baten darum, gemeinsam aufgestellt zu werden. Nein, da gab es keine persönlichen Rechnungen. Und trotzdem …«
Schubert machte eine Pause – zwei Beamte aus der Kanzlei gingen vorbei. Sie grüßten Fandorin und verneigten sich schweigend vor dem Oberpolizeimeister. Schließlich konnte dieser fortfahren.
»Gestern kam ein Jäger zum Swenigoroder Kreisrichter, ein gewisser …« Schubert sah in sein Notizbuch, »Antip Sapryka, und teilte mit, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie alles passierte. Herr Kulebjakin behauptet, dass er, als er die Flinte hochriss, zu früh abdrückte. Der Jäger hingegen sagte aus, dass Kulebjakin in eindeutiger Absicht auf den Hinterkopf des Fürsten gezielt und dann geschossen habe. Inzwischen wurde überprüft, dass Sapryka von der Stelle, die ihm zugewiesen war, den Tatort wirklich überblicken konnte. Selbstverständlich zählt die Aussage eines Sapryka nichts gegen das Wort des hochmögenden junges Mannes, aber andererseits, warum sollte der Jäger haltlose Beschuldigungen vorbringen? Er ist nicht mehr jung, trinkt nicht und hat den besten Leumund. Seit fast dreißig Jahren arbeitet er auf dem Gut des Generalgouverneurs.«
»Ein heikler Fall«, stimmte der Staatsrat zu. »Das muss genau untersucht werden.«
»Ganz meine Meinung. Schließlich wurde keine Auerhenne erschossen, sondern Fürst Borowski. Was war das für ein Mann! Die Hälfte der Moskauer Damen
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