Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
blickte
sich in dem kleinen Raum um, der erstaunlich gemütlich wirkte.
Abgesehen von der Musik und dem Lachen, das bis spät in die
Nacht aus dem Nebengebäude drang, merkte man nichts von den
unmoralischen Vorgängen dort. Wenn sie Yazi ein paar Geschenke
überreichte, würde sie vielleicht noch etwas länger
bleiben können.
»Aber
diese Frau ist böse«, rief Dewei nun etwas lauter. »Sie
war bei den Taiping. Die haben meinen Großvater getötet.
Und meiner Großmutter haben sie ihr Siegel mit einem Dolch in
die Stirn geritzt. Sie behielt die Narbe ihr Leben lang. Deshalb
erkenne ich es überall wieder.«
Seine
Augen waren weit aufgerissen und starrten flehend in Viktorias
Gesicht. Sie wollte ihn sogleich wieder einen abergläubischen
Dummkopf schelten, dann fiel ihr ein, dass er damals bei den
Huntingdons tatsächlich das Taiping-Siegel erkannt hatte.
»Es
stimmt, einige von uns taten diese Dinge«, erklang plötzlich
Yazis Stimme im Hintergrund. Sie kam ein paar Schritte näher und
stellte eine große Reisschüssel auf den Tisch.
»Am
Anfang, da liebten uns die einfachen Leute. Sie schenkten uns Essen,
als wir hungerten, weil sie hofften, wir würden dieses Land
verändern und ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Doch
wir brachten nichts als endlosen Krieg und Hunger. Da begannen sie
uns zu hassen, aber manche von uns wollten diesen Hass nicht
hinnehmen und verhielten sich deshalb noch hassenswerter.«
Zögernd
streckte sie die Hand nach Dewei aus, der zurückwich.
»Es
tut mir leid«, sagte sie leise. »Es war verkehrt, wie so
vieles, was wir taten. Aber es ist geschehen.«
Viktoria
schluckte nervös. Dieses Gespräch war Teil einer Welt, zu
der sie nicht gehörte, deren Härte und Grausamkeit sie
abstieß.
»Die
Vergangenheit kann man nicht mehr ändern«, warf sie ein.
»Aber vielleicht sollten Sie überlegen, wie sie jetzt
ihrer Tochter helfen könnten. Wissen Sie, was mit ihr geschehen
ist?«
Yazi
neigte den Kopf.
»Sie
wurde bestraft, weil sie ihrem Gemahl nicht gehorchte. Diese Gefahr
nahm sie in Kauf, als sie sich heimlich mit mir traf. Aber Lao
Tengfei gilt nicht als harter Mann. Er wird ihr nach einer Weile
vergeben.«
Viktoria
fuhr empört auf.
»Er
hat sie aufs Land verbannt. Sie konnte nicht einmal ihre geliebten
Bücher mitnehmen. Sie stirbt dort vor Langeweile.«
Yazi
setzte sich lächelnd an den Tisch.
»Ich
habe Menschen an Krankheiten, an Hunger und an Verwundungen sterben
sehen, aber niemals vor Langeweile. Ich mache mir mehr Sorgen um
Jinzi als um Chuntian.«
Viktoria
setzte sich ebenfalls. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen,
die sie alle Empörung über die Duldung von Chuntians Strafe
vergessen ließ.
»Was
ist mit ihm? Er ist ein guter Akrobat. So kann er sicher viel Geld
machen.«
Yazi
begann kleine Schüsseln und Essstäbchen auf dem Tisch zu
verteilen.
»Jinzi
hat Talent, aber er ist zu störrisch, um sich bei den richtigen
Leuten beliebt zu machen, die ihm einen Aufstieg ermöglichen
würden. Wir hatten Glück mit Shen Akeu. Sie stört sich
nicht einmal an seiner Herkunft.«
Viktoria
hatte ohne weiteres Nachdenken begonnen, beim Verteilen des
Essgeschirrs zu helfen.
»Was
ist denn so schlimm an seiner Herkunft? Ist es, weil Sie von …
von diesem Volk abstammen, das keine Frauenfüße
einbindet?«
Yazi
begann zu lachen.
»Das
sieht nicht jeder. Aber den Vater sieht man ihm an.«
»Warum?
Wer war sein Vater?«
Nun
wurde sie von Yazi eine Weile ungläubig gemustert.
»Sie
sehen es nicht? Vielleicht, weil es für sie nicht fremd ist.
Jinzis Vater hatte Haare so hell wie Weizen kurz vor der Ernte. Seine
Augen erinnerten mich zunächst an eine kostbare Katze, wie sie
von reichen Damen gehalten werden, denn sie waren noch blauer als
Ihre.«
Eines
der Essstäbchen, die Viktoria in der Hand gehalten hatte,
landete gerade scheppernd auf dem Tisch, als die Tür aufging.
Sie wandte sich um, voller Erwartung, Jinzi genauer mustern zu
können. Aber im Türrahmen stand eine Frau.
Aus
der Nähe betrachtet wirkte Shen Akeu ein wenig älter.
Selbst dick aufgetragene Schminke vermochte die Falten unter ihren
Augen und an ihren Mundwinkeln nicht völlig abzudecken, aber
diese kleinen Makel änderten nichts an der edlen Harmonie
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