Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
mittlerweile recht gut, sie auf den
Stäbchen zu balancieren. Sie legte drei davon in ihrem kleinen
Essschälchen ab. Die Gemüsefüllung schmeckte köstlich.
»Wie
ich schon sagte, Jinzi macht mir Sorgen«, fuhr Yazi fort.
»Ständig stößt er Leute vor den Kopf. Auf diese
Weise wird er überall zum Außenseiter. Er verbaut sich
jede Aussicht auf eine annehmbare Zukunft.«
Diese
Worte hätten Viktoria eigentlich beruhigen sollen, denn sie
nahmen alle Schuld an Jinzis Benehmen von ihren Schultern. Aber
anstatt Erleichterung zu verspüren, empfand sie den
unerklärlichen Drang, diesen störrischen Dickkopf zu
verteidigen.
»So
düster kann seine Zukunft nicht aussehen. Er ist doch wirklich
ein geschickter Akrobat und außerdem … na ja, er sieht
gut aus.«, entgegnete sie. Yazi schwieg, aber ihre Augen
lachten in einer schelmischen Art, die Viktorias Wangen zum Glühen
brachte. »Ich meinte nur, dass sein Aussehen ihm bei den
Auftritten sicher hilft, weil … weil er den Frauen gefällt«,
fügte sie mit Nachdruck hinzu.
»Das
weiß ich«, meinte Yazi nur. »Doch ein mittelloser
Akrobat ist ein Niemand. Er muss Demut und gefälliges Benehmen
lernen, um Unterstützung zu finden.«
Mit
einem Mal fühlte Viktoria sich Jinzi sehr nahe. Sie hatte selbst
mehrfach erfahren müssen, dass Demut eine bittere Pille war, die
sich nur schwer hinunterwürgen ließ und einen sehr
unangenehmen Nachgeschmack hatte.
»Er
könnte doch auch diese Beamtenprüfungen ablegen«,
sagte sie nach kurzem Überlegen. »Dann wäre er kein
Niemand, sondern ein Mandarin.«
Sie
bemerkte Yazis fassungslosen Blick und fügte sogleich hinzu,
dass Lao Tengfei es ihr so erklärt hatte. Jeder chinesische Mann
hatte das Recht, zu diesen Prüfungen anzutreten. Es war ein
erstaunlich gerechtes System.
»Das
gilt nicht für ehrlose Existenzen wie Bettler und Schauspieler«,
wurde ihre Illusion sogleich zerstört. »Und wie soll ein
armer Junge, der für seinen Lebensunterhalt schuften muss, die
Zeit finden, jahrelang zu studieren? Selbst wenn er aus Ehrgeiz auf
Schlaf verzichtet, er kann sich weder Bücher noch Lehrer
leisten. Außerdem wäre das alles nichts für Jinzi. Er
liebt die Bühne zu sehr, um in der Schreibstube zu hocken.«
Viktoria
senkte den Kopf. Die Welt der Chinesen schien auf den ersten Blick
ein Reich voll unverständlicher Exotik, doch bei genauerem
Hinsehen tat sich durchaus viel Vertrautes auf.
Yazi
klemmte eine weitere Teigtasche zwischen ihre Stäbchen.
»Shen
Akeu scheint mit Jinzi aber gut zurechtzukommen. Er achtet sie und
murrt nicht, wenn sie ihm Anweisungen erteilt. Vielleicht, weil sie
auch ihn achtet. Sie verlangt nichts von ihm, das er nicht ertragen
könnte.«
Viktoria
unterdrückte mühsam ein bissiges Grinsen. Die Zeichnungen
fielen ihr ein. Kaum ein Mann würde als unerträglich
empfinden, diese Dinge mit einer schönen Hure tun zu müssen.
»Was
könnte sie denn so Schlimmes von ihm verlangen?«, fragte
sie spitz.
Yazi
schien den spöttischen Unterton nicht zu hören. Ihr Gesicht
blieb ernst, war auf ihre Essschüssel gerichtet.
»Sie
wissen, was für ein Haus das hier ist?«
Viktoria
nickte zaghaft. Diesen Umstand unausgesprochen zu lassen wäre
ihr lieber gewesen.
»Jinzi
tritt dort auf, um Gäste zu unterhalten«, fuhr Yazi fort.
»Es gibt Männer, die einen schönen Jüngling den
hübschesten Mädchen vorziehen.«
Viktoria
wurde kalt. Sie wäre am liebsten aufgestanden und fortgelaufen.
»Aber
Jinzi darf das ablehnen«, meinte Yazi. »Sogar die Mädchen
dürfen manche Männer ablehnen, wenn es nicht zu oft
geschieht. Shen Akeu ist eine großmütige Frau.«
Viktoria
wurde schlagartig bewusst, dass sie sich in einer fremden Welt
befand. So nah ihr Chuntian, ihre Mutter und ihr Bruder auch manchmal
gewesen waren, lebten sie dennoch nach Regeln, die sie selbst niemals
würde verstehen und hinnehmen können. Sie legte die
Essstäbchen zur Seite, obwohl ihr Hunger noch nicht gestillt
war. Jetzt war es Zeit zu gehen.
»Wir
müssen zur Gesandtschaft«, wandte sie sich an Dewei, der
schweigend gegessen hatte. »Du kennst doch den Weg?«
Der
Junge nickte. Sie stand auf und begann hastig ihren Koffer zu packen.
Dewei half brav mit. Viktoria verstand nicht, warum ihr trotz aller
Entschlossenheit Tränen in die
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