Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Augen stiegen. Aber sobald sie
wieder unter ihren eigenen Leuten war, würde diese lästige
Schwermut sicher nachlassen.
Kurz
bevor sie den Deckel des Koffers zuklappte, wurde ihr bewusst, dass
sie Yazi und Jinzi Dank schuldete. Sie erwog, eines ihrer Bücher
als Geschenk anzubieten, aber konnte Yazi überhaupt auf Englisch
lesen? Es wäre peinlich gewesen zu fragen. Da Viktorias Beutel
mit allen Taels verschwunden war, blieb nur noch die
Schmuckschatulle. Grübelnd betrachtete sie ihre verbliebenen
Schmuckstücke. An jedem Juwel hing ihr Herz, doch hatte Yazi
eine teure Gabe durchaus verdient. Viktoria fragte sich, was der
Schwertkämpferin gefallen könnte. Sie trug keinen Schmuck,
abgesehen von einem schmalen Jadering an ihrer linken Hand.
Schließlich ergriff Viktoria die offene Schatulle, um sie Yazi
hinzuhalten.
»Bitte,
suchen Sie etwas aus«, zwang sie sich zu sagen, obwohl eine
Nadel in ihre Brust stach. Yazi könnte den Drachenreif nehmen.
Oder die alten Granaten. Aber Viktoria war entschlossen, diesen
Verlust ohne Murren hinzunehmen.
»Aber
nein, ich möchte nichts«, meinte die Chinesin lächelnd.
Viktoria seufzte innerlich. Nun stand ihr eine längere
Verhandlung bevor, sie musste auf ihrem Angebot beharren, das Yazi
wiederholt zurückweisen würde. Nachzugeben und die
Schatulle einfach wieder zuzuklappen wäre in China noch
unhöflicher gewesen als überhaupt nichts anzubieten.
Doch
plötzlich blitzten Yazis Augen auf. Sie griff in die Schatulle
und nahm das schlichteste Schmuckstück heraus, dessen Existenz
Viktoria fast vergessen hatte: jenen grünen Jadering, Margarets
heimliches Abschiedsgeschenk.
Bisher
war Yazi der Inbegriff gelassener Heiterkeit gewesen, doch nun
zitterten ihre Hände. Sie legte den Ring auf den Tisch, zog
gleich darauf ihren eigenen vom Finger. Viktoria bemerkte eine
Ähnlichkeit, doch fand sie nichts Ungewöhnliches daran.
Chinesen fertigten Schmuck und Kleidung nach traditionellen Mustern
an, schienen eher geschickt in der Verarbeitung winziger Details denn
besonders einfallsreich. Yazi tastete nun beide Ringe ab und hielt
sie sich dicht vor die Augen. Schließlich bebten ihre Arme so
stark, dass sie die Ringe fallen ließ.
»Sehen
Sie! Sehen Sie!«
Yazi
hob die Ringe wieder auf, um sie Viktoria hinzuhalten. Auf beiden war
zwischen Blumenmuster eine winzige, europäische Jahreszahl
eingraviert. 1864. Chinesische Schriftzeichen umrahmten sie.
»Woher
haben Sie diesen Ring?«
Yazis
Gesicht war spitz und schmal geworden. Ihr Mund zuckte, als kämpfe
sie mühsam einen Weinkrampf nieder. Viktoria sank auf den Stuhl.
Ganz langsam fügten Splitter sich in ihrem Kopf zu einem
schemenhaften Bild zusammen, das etliche Lücken aufwies.
Sie
hatte die Möglichkeit kurz erwogen, aber wieder verworfen. Es
gab allein in Peking über zweihundert westliche Männer, die
sicher auch Liebschaften mit Chinesinnen eingingen, schon weil es an
westlichen Frauen mangelte. Ein solcher Zufall war ihr zu
unwahrscheinlich erschienen.
Aber
war es ein Zufall? Warum hatte Margaret sie so schnell in Lao
Tengfeis Haus geschickt, so sichtlich erfreut über ihr
Einverständnis, diese Stellung anzunehmen? Sie musste geahnt
haben, dass dort eine Verbindung zu Yazi bestand.
»Jinzis
Vater hieß Andrew Huntingdon«, stellte Viktoria fest.
Fragen waren überflüssig. Sie musterte Yazis verstörtes
Gesicht, das sich ihr flehend zuwandte.
»Wie
geht es ihm? Ist er glücklich? Hat er … hat er eine Frau
aus seinem Volk gefunden?«, stieß die Chinesin flüsternd
hervor.
Viktoria
meinte durch ein Labyrinth zu irren.
»Sie
wissen nicht, wo er ist?«
Yazi
schüttelte den Kopf. Nun flossen Tränen ungehemmt über
ihre Wangen.
»Dann
erzählen Sie mir bitte, wie Sie ihn kennengelernt haben«,
begann Viktoria, um dieses Knäuel an undurchsichtigen
Informationen entwirren zu können.
Zweites Buch
1. Kapitel
Yazis
Leben begann im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Dao
Guang, 1835 nach westlicher Zeitrechnung. Sie wuchs in einem
mehrstöckigen Rundbau auf, wo ihre Familie zwei Räume
bewohnte. Eine wehrhafte Außenmauer versprach trügerische
Sicherheit. Die Quartiere der anderen Dorfbewohner schmiegten sich
ebenfalls an diesen Schutzwall, sodass ein Kreis gebildet wurde.
Inmitten des Rundbaus war eine freie, mit Gras bewachsene Fläche.
Dort trieben
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