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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Blick des Mannes. »Der
Oberst hat befohlen, dass niemand zu dem Mann vorgelassen werden darf.«
    Helene plusterte ein wenig ihre fleischigen Wangen auf. »Junger
Mann, Ihnen ist bewusst, wer ich bin?«
    »Ja, die Gräfin, aber …«
    »Glauben Sie, ich wäre so verdammt früh auf meinen Beinen, wenn
ich nicht die Erlaubnis hätte, den Gefangenen zu sehen? Ja, wenn es nicht sogar
der ausdrückliche Wunsch des Obersts wäre?«
    Der Soldat suchte nach den richtigen Worten, doch Helene fuhr ihn
an. »Nun öffnen Sie schon diese Falltür! Oder erwarten Sie etwa, dass ich es
selbst tue? Der Oberst wird begeistert sein, wenn er erfährt, dass seine Männer
nicht nur bockig sind, sondern auch keinerlei Manieren haben.«
    Restlos verdattert bückte sich der Mann, um ihrem Wunsch hastig
nachzukommen.
    Ohne ein weiteres Wort stieg die Gräfin die einfache Holzleiter
hinab, gefolgt von Bernina.
    Gleich darauf befanden sie sich unter der Erde, und für einen
flüchtigen Moment musste Bernina an die unterirdischen Verstecke der Menschen
in Ippenheim denken. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, die
nur von der offen stehenden Falltür aus Brettern beeinträchtigt wurde. Bernina
sah leere Kisten und Weidenkörbe, die wohl schon lange nicht mehr gefüllt
worden waren. Sie spürte die Feuchtigkeit und nahm einen Zinnteller mit
Brotkrümeln wahr, der zu ihren Füßen stand – offenbar Reste einer Stärkung
für den Gefangenen.
    Und als sie von dem Teller aufsah, bemerkte sie die Gestalt, die
zwischen den Kisten und Körben zögernd auf die Beine kam und sich auf sie zu
bewegte.
    Die beiden Frauen standen noch immer unter der Falltür, nahe der
Leiter. Bernina fühlte, wie sich der Blick ihrer Freundin fragend auf sie
richtete.
    Sie selbst konnte nicht anders, als wie gebannt auf den Mann zu
starren, der nun vor ihnen verharrte.
    Ihre Beine wurden seltsam schwach, als würde
alle Kraft aus ihnen weichen, als könnten sie gleich einknicken. Ihre Hände
zitterten. Und ihre Augen sahen noch immer auf den Mann, wie wenn sie versuchen
würde, ihn mit diesem Blick zu berühren. Seine sehnige Gestalt. Sein volles
schwarzes Haar, das ihm in die Stirn fiel. Seine dunkle Haut, seine ebenso
dunklen, selbst hier unten noch glänzenden Augen. Für einen gewaltigen,
unendlich lauten, unendlich stillen Moment war es wunderschön für Bernina, sich
dieser verlockenden Hoffnung hinzugeben, sogar ganz fest an das zu glauben, was
sie sich einmal so stark herbeigesehnt hatte.
    Doch nur für diesen Moment. Denn anders als damals, an einem
frühen Morgen im Lager der kaiserlichen Armee, gelang es ihr diesmal, sich
nicht von dem Wunsch, von der Illusion überwältigen zu lassen.
    Diesmal verwechselte sie die beiden Männer nicht.
    »Bernina«, drang die Stimme des Gefangenen zu ihr, dessen Kleidung
in Fetzen an ihm herabhing. Seine Füße waren bloß und man sah ihm an, dass er
einen weiten, beschwerlichen und gewiss auch gefahrvollen Weg zurückgelegt
hatte. Sein Blick lag auf ihr, nicht überrascht, sondern so, als hätte er die
ganze Zeit über auf sie gewartet. »Bernina«, sagte er erneut. »Als du diese Leiter
heruntergekommen bist, habe ich in deinem Gesicht die Hoffnung gesehen. Die
Hoffnung darauf, hier unten Anselmo anzutreffen.«
    »Das mag sein. Aber dir wieder zu begegnen, ist auch eine so große
Freude für mich, dass ich sie gar nicht in Worte fassen kann, Eusebio.«
    Er war es tatsächlich. Eusebio. Seit er inmitten des blutigen
Durcheinanders einer furchtbaren Schlacht von einem Augenblick auf den nächsten
verschwunden war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
    »Du nimmst es mir mit Sicherheit übel, dass ich dich damals im
Stich gelassen habe. Aber leider sind meine Nerven nicht so unerschütterlich
wie deine.«
    »Es gibt nichts, was ich oder Melchert Poppel dir jemals übel
genommen hätten.«
    »Ja, der Arzt.« Eusebio senkte den Blick und nickte. »Damals war
ich schwach.« Er sah wieder zu ihr auf. »Aber heute bin ich stärker.« Er schob
seinen Brustkorb nach vorn. »Ich bin hier, um dir etwas Wichtiges mitzuteilen,
Bernina. Etwas sehr Wichtiges.«
    Und damit war es wieder da, dieses Gefühl, dass der Boden unter
ihr nachgeben würde, dieses Gefühl von Hitze und Kälte.
    Im nächsten Augenblick jedoch ertönte ein Geräusch – das
scharfe Knirschen von Lederstiefeln auf der Leiter.
    Schon während sie sich umdrehte, wusste Bernina, wem die Stiefel
gehörten. Oberst Jakob von Falkenberg sprang lässig von einer

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