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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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der unteren
Sprossen und stellte sich kerzengerade hin, das Kinn erhoben, die Augen wie
stechende Lichtpunkte. Weder beachtete er Helene noch Eusebio – sein Blick
umschloss Bernina.
    »Was ist hier los?« Seine Stimme ertönte mit einer Verhaltenheit,
die einen harten Kontrast zu dem Flackern seiner Augen bildete.
    Betont gleichmütig erwiderte die Gräfin: »Wir wollten uns den Kerl
ansehen, der hier für so viel Aufregung gesorgt hat.«
    Falkenberg gönnte ihr nach wie vor keinen Blick. Unablässig sah er
in Berninas Gesicht, als versuche er, ihre Gedanken zu lesen. »Und was sagt ihr
jetzt, da ihr ihn gesehen habt?«
    »Was sollen wir schon sagen?«, gab erneut Helene die Antwort.
    Er machte einen Schritt auf Bernina zu. »Du bist so schweigsam.«
    Seine Stimme war noch immer verhalten, aber die Spannung war
greifbar.
    Eusebio stand an der gleichen Stelle. Nichts an ihm regte sich,
aber Bernina war bewusst, dass auch er sie unentwegt betrachtete.
    »Schweigsam?«, wiederholte Bernina. »Es gibt wirklich nichts zu
sagen. Wir waren einfach nur neugierig.«
    »Darüber wundere ich mich ja gerade. Nur ein ganz gewöhnlicher
Landstreicher. Was hast du denn Besonderes erwartet?«
    »Eigentlich nichts, aber immerhin hat der Mann …«
    »Für so viel Aufregung gesorgt, ich weiß«,
unterbrach Falkenberg sie mit einem kurzen, überlegenen Grinsen, das sofort
wieder verschwand. »Aber da wir nun schon einmal hier sind, würde es mich
durchaus interessieren, ob dir der Gefangene irgendwie bekannt vorkommt. Ob du
ihn womöglich sogar kennst.«
    »Wie kommst du darauf?«, fragte sie gelassen.
    »Bernina, ist er dir früher schon einmal begegnet? Das ist doch
eine ganz einfache Frage.«
    Sie sah ihm an, wie versessen er darauf war, ihre Gedanken, ihre
Gefühle zu erraten. Und gleichzeitig hätte sie selbst allzu gern gewusst, was
sich hinter Falkenbergs Stirn abspielte. War er genau im Bilde darüber, wer
Eusebio war? Hatte er ihn verhört? Und wenn ja, was hatte Eusebio dabei
preisgegeben? Schließlich hatte Falkenberg angeordnet, dass niemand zu dem Gefangenen
vorgelassen werden dürfe. War das nur aufgrund einer Ahnung geschehen? Diente
es als reine Vorsichtsmaßnahme?
    Sie warf einen raschen Blick auf Eusebio, der ihn mit
ausdrucksloser Miene erwiderte. Offenbar spürte er, dass es besser war, zu
schweigen.
    »Nein, ich bin dem Gefangenen nie zuvor begegnet«, versicherte sie
mit fester Stimme.
    »Könnte es etwa sein, dass er dich an einen anderen Mann
erinnert?«
    »Ja«, antwortete sie dumpf.
    »Das ist genau das, was ich befürchtet hatte. Deshalb wollte ich
es vermeiden, dass du ihn siehst. Ich hoffe, die Erinnerung macht dir nicht
allzu sehr zu schaffen.«
    »Nein, mit mir ist alles in Ordnung.«
    Bernina hätte nicht sagen können, ob er ihr glaubte oder nicht.
Auch nicht, ob er etwas vor ihr verbarg. Aber plötzlich war ihr das vollkommen
egal. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, ganz instinktiv, aus einem Gefühl
heraus, das sie auf einmal deutlich wahrnahm.
    »Dann können wir diesen ungastlichen Ort wieder verlassen«, meinte
der Oberst und blickte von Bernina zu Helene und wieder zu Bernina.
    Sie sah ihn ebenfalls an. »Dennoch muss ich mit dir sprechen.«
    »Jederzeit.«
    »Ich möchte mich etwas zurückziehen und ein Frühstück einnehmen.
Danach könntest du in mein Zimmer kommen.«
    Er lächelte. »Warum so förmlich?«
    »Förmlich? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
    Sein Lächeln blieb, doch möglicherweise wollte er damit nur seine
Überraschung überspielen. »Über eine Unterhaltung, die in schönerer Umgebung
als dieser stattfindet, würde ich mich freuen. Sie wird gewiss auch in
angenehmerer Stimmung verlaufen.«
    Tatsächlich, er wirkte überrascht und schien bereits darüber
nachzugrübeln, was Bernina anzusprechen gedachte.
    Helene, die seit geraumer Zeit keinen Ton geäußert hatte, begann
die Leiter hinaufzusteigen, gefolgt von Bernina, während Falkenberg noch unten
stand.
    Als Bernina die oberste Sprosse der Leiter mit der Hand ergriff,
blickte sie noch einmal zu Eusebio herunter. Ganz kurz nur. Dieser Moment
allerdings genügte ihm, um stumm mit seinen Lippen ein Wort zu formen. Ein
einziges Wort – doch dieses Wort traf Bernina wie ein Blitzschlag.
    Dann stand sie wieder auf der Erde, neben der Falltür. Das Aroma
der Hagebuttensträucher mischte sich mit der klaren Luft. Es war hell geworden,
die Sonne hatte das Grau des Morgens in ein gleißendes Licht verwandelt. Doch
Bernina

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