Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
dass man nicht nur nehmen, sondern auch geben kann.«
Shelly zog eine Braue hoch. Manchmal wurde sie nicht recht schlau aus dem, was Hal sagte. Er neigte dazu, die Dinge auf seine ganz eigene Art und Weise auszudrücken. Doch sie hatte bereits herausgefunden, dass sich die Mühe, seine Worte zu entschlüsseln, zumeist durchaus lohnte. »Aber das habe ich doch auch in diesem Fall getan«, murmelte sie nachdenklich. »Ich habe dem Mann etwas für seine Hilfe angeboten.«
»Sehen Sie, das hier ist ein kleines Tal in einem weiten Land. Wir sind hier nicht in der Großstadt, hier zählen andere Werte. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Sein sonnengegerbtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich mag Sie, Shelly. Ihre Kinder und Sie sind die freundlichsten und warmherzigsten Menschen, die mir seit einer ganzen Weilebegegnet sind. Sie werden Ihren Weg schon gehen, davon bin ich fest überzeugt.«
Shelly nickte. Sie war sich dessen längst nicht so sicher, wollte Hal aber auch nicht widersprechen. Die Zukunft würde zeigen, wer von ihnen recht behielt. Allerdings musste sie wirklich zugeben: Je länger sie sich in Aorakau Valley aufhielt, umso heimischer fühlte sie sich hier. Inzwischen ertappte sie sich manchmal dabei, wie sie sich ein Leben hier auf der Farm zusammen mit ihren Kindern, Emily, Hal und Lenny vorstellte.
Aber das waren natürlich reine Tagträumereien. An ihren eigentlichen Plänen hatte sich schließlich nichts geändert: Sie würde die Farm verkaufen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, und mit ihren Kindern zurück in die Stadt ziehen. Welche Alternative gab es schon für sie? Dass sie ihre Drohung wahr machte, die sie Josh gegenüber bei ihrer ersten Begegnung geäußert hatte? Dass sie Schaffarmerin werden würde? Nein, wohl kaum. Sie taugte gewiss nicht dazu, so viel stand fest.
Was also sollte sie mit einer Schaffarm anfangen?
Unschlüssig stand Shelly am nächsten Tag im Einkaufsladen von Aorakau vor dem Regal mit den Tiefkühlprodukten und hielt nach Kimberlys Lieblingseis Ausschau. Sie hatte gestern Abend wieder einmal miteinander gestritten, und Shelly wollte ihrer Tochter ein kleines Friedensangebot machen. Doch die Produktauswahl in dem kleinen Laden, der von einem dunkelhäutigen Mann mit Maori-Wurzeln geführt wurde, war nicht gerade überwältigend. Die kleinen Geschäfte, die auf kleinstem Raum die nötigsten Dinge des täglichen Bedarfs anboten, waren eben nicht mit den riesigen Supermärkten in L. A. zu vergleichen. Nicht umsonst wurden sie hierzulande liebevoll Dairys – Milchläden – genannt.
Sie wollte gerade um Hilfe bitten, als ein etwa sechzehnjähriger Junge durch die Tür stürzte.
»Hat jemand Doc Halligan gesehen?«, stieß er völlig außer Atem hervor.
»Du meinst unseren tattrigen Viehdoktor?«, erwiderte der Ladenbesitzer und stützt sich mit beiden Händen auf die Theke. »Der liegt doch schon seit zwei Tagen in Auckland im Krankenhaus. Irgendeine Kreislaufgeschichte oder so. Warum fragst du, Luke? Stimmt etwas nicht?«
Der Junge wirkte völlig aufgelöst. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Verdammt, was mache ich denn jetzt? Mein Dad hat mich geschickt, um den Doc zu holen. Irgendwas stimmt mit Queeny nicht. Sie hat schreckliche Schmerzen, aber das Fohlen kommt einfach nicht!«
Shelly hatte nicht verhindern können, alles mit anzuhören – und sie zögerte nicht lange. »Entschuldigung, aber habe ich das richtig verstanden: Sie haben Schwierigkeiten mit einer fohlenden Stute?«
Der Junge nickte heftig. »Ja, Queeny geht’s gar nicht gut. Kennen Sie sich mit Pferden aus?«
»Könnte man so sagen«, erwiderte Shelly lächelnd. »Ich bin Tierärztin. Kann ich vielleicht irgendwie helfen?«
»Ich weiß nicht recht … Mein Dad mag keine Fremden.«
»Sei nicht dumm, Luke«, redete der Ladenbesitzer ihm gut zu. »Oder hast du vielleicht eine bessere Idee?«
»Nein …« Fragend schaute der Junge Shelly an. »Würden Sie das wirklich tun?«
»Natürlich.« Shelly legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm, gehen wir. Wir sollten keine Zeit verlieren.«
»Ich schicke noch ein paar Leute zum Helfen zu euch raus«, rief ihnen der Ladenbesitzer hinterher, als sie das Geschäft verließen.
Shelly ließ Luke, der mit seinem Motorroller in die Stadt gefahren war, zu sich in den Wagen steigen. Der Junge lotste sie zur Farm seiner Eltern, wo sie bereits ungeduldig erwartet wurden.
»Was soll’n das Luke?«, rief ein älterer Mann, vermutlich
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