Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
nicht, ob wir überhaupt die Mittel haben. Zunächst einmal müssen wir sehen, wie es finanziell weitergeht. Ich habe keine Arbeit hier und noch keine Ahnung, wie es mit der Farm weitergehen soll. Wenn sich am Ende herausstellt, dass wir doch wieder in die Stadt ziehen müssen, wirst du die Kleine nicht mitnehmen können …«
»Wenn wir aus dem Tal weggehen müssen«, fiel Kim ihr rasch ins Wort, »nimmt Mr Carter sie ganz bestimmt wieder zurück – nicht wahr, Mr Carter?«
Der alte Farmer nickte grinsend. »Aber sicher, überhaupt kein Problem.«
Shelly gab sich geschlagen. »Also gut, aber wenn es wirklich so kommt, machst du keinen Stress, versprochen?«
Jubelnd fiel Kim ihrer Mutter um den Hals. »Danke, danke, danke!«
Shelly ging das Herz über vor lauter Liebe zu ihrer Tochter. Kim endlich wieder glücklich zu sehen, war das größte Geschenk auf Erden. Und in diesem Moment fasste Shelly einen Entschluss: Sie würde ihr bis eben noch auf wackligen Beinen stehendes Vorhaben, in Aorakau Valley zu bleiben, in die Tatumsetzen. Das hier würde das neue Zuhause für die Familie Makepeace werden, und dafür würde sie alles tun. Einfach alles! Hier konnten sie glücklich werden, das spürte sie.
Etwas später am Abend, während Kim überglücklich mit ihrem Bruder und ihrem neuen Schützling draußen auf der Weide herumtobte, hockte Shelly wieder oben auf dem Dachboden und stöberte in den verstaubten Kartons und Kisten. Dabei fiel ihr eine Mappe in die Hände, die in ein vergilbtes Tuch eingeschlagen war. Neugierig schlug sie die Stoffbahnen auseinander und atmete scharf ein, als sie sah, dass sich darin eine Zeichnung befand.
Es handelte sich um die Kohlezeichnung einer jungen Frau mit Maorizügen, die an einem Fenster stand und versonnen in die Ferne blickte. Ihr langes dunkles Haar wehte in einer sanften Brise, die dunklen Augen wirkten abwesend, fast schon verträumt. Zwischen leicht geöffneten Lippen glitzerten strahlend weiße Zähne.
Sofort erkannte Shelly den kräftigen Strich ihres Großvaters. Wie oft hatte sie als Kind auf seinem Schoß gesessen und dabei zugesehen, wie er zeichnete. Dieses Bild stammte ganz eindeutig aus seiner Feder – nur: Wer war die schöne Unbekannte?
Shelly drehte die Zeichnung um. In der ordentlichen Schrift ihres Großvaters stand dort ein einziger Satz geschrieben:
May – an dem Tag, an dem ich sie zum allerersten Mal sah …
6
Aorakau Valley, 18. Juni 1954
»Das will ich sehen, Wood, los gib her!« Benjamin Makepeace griff nach dem Magazin, doch sein bester Freund Callum brachte es in Sicherheit, ehe er es packen konnte.
»Du willst Marilyn sehen?« Callum grinste. »Okay, aber dann lässt du mich eine Runde in deinem Morris fahren, Makepeace!«
Ben, der sein Auto über alles liebte, stöhnte auf. »Das ist Erpressung, Cal!«
»Nein«, entgegnete Callum lachend. »Das ist ein Deal. Also, was sagst du?« Er schlug das Magazin, das sein Cousin Larry ihm heimlich von seinem Trip nach Amerika mitgebracht hatte, wieder auf und fing an zu schwärmen. »Sie sieht so heiß aus, das kannst du dir nicht vorstellen, Ben! Diese Frau ist es wert, dass man seine Seele für sie verkauft – und du bist nicht einmal bereit, mir für ein paar Minuten deine Kiste zu überlassen? Schäm dich!«
Es war Freitagabend, und die beiden siebzehnjährigen Jungs waren auf der Suche nach ein bisschen Zerstreuung zum U-ie hinausgefahren. An diesem Ort etwas außerhalb von Aorakau, der nach der scharfen Wendung benannt war, die der Lauf des Silver Creek an dieser Stelle vollführte, traf sich am Wochenende die Jugend des Tals.
Aorakau Valley war nicht gerade das, was man als den Nabel der Welt bezeichnete. Wenn man als Teenager wirklich etwas erleben wollte, musste man schon bis nach Waitahuna oder Lawrence fahren. Dort gab es wenigstens ein Lichtspieltheater, in dem Filme mit Humphrey Bogart und Marlon Brando gezeigt wurden – den heimlichen Helden der beiden Jungs.
Die hübschesten Mädchen aber traf man immer noch am guten alten U-ie .
Der Abend war für Ben nicht schlecht gelaufen. Melinda Carruthers und Lizzie Adair hatten beide ziemlich heftig um seine Aufmerksamkeit gebuhlt, wobei es ihm schwerfiel zu entscheiden, welches der beiden Mädchen ihm besser gefiel. Beide waren hübsch – die eine blond mit blauen Augen, die andere brünett mit grünen Augen – und hatten eine tolle Figur. Allerdings fand Ben, dass Lizzie die schöneren Brüste hatte. Ben mochte
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