Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Schönheit.
Als Ben am frühen Sonntagabend vor dem großen Farmhaus auf Emerald Downs vorfuhr, drückte er kräftig auf die Hupe.
Obwohl Callum und er sich schon so lange kannten, hatte er das Gebäude noch nie betreten. Cal hatte ihm einmal erzählt, dass sein Vater keine Besucher mochte, und im Grunde hatte Ben auch kein Problem damit. Ingram Wood war ihm irgendwie unheimlich. Er verspürte kein gesteigertes Bedürfnis, dem Mann öfter über den Weg zu laufen.
Als Cal auch nach fünf Minuten noch nicht aufgetaucht war, hupte Ben erneut. Heute war der Abend der großen Feier zur Gründung von Aorakau vor achtzig Jahren, und er wollte nicht zu spät kommen. Das ganze Tal war eingeladen, es würde Musik geben und Tanz. Genau das, was Ben im Augenblick brauchte, nach all dem Stress der vergangenen Tage.
Eine Gruppe Schafe war durch ein nicht richtig geschlossenes Gatter über Nacht ausgebüxt. Ben, sein Vater und die Arbeiter hatten mit den Hunden den ganzen Samstag gebraucht, um alle Tiere wieder zusammenzutreiben. Er war so mit seiner Aufgabe beschäftigt gewesen, dass er keine Zeit gehabt hatte, an das geheimnisvolle Mädchen auf Emerald Downs zu denken. Doch jetzt, während er auf Callum wartete, wanderte sein Blick wie von selbst zum obersten Stockwerk des Farmhauses.
Das Fenster, an dem die milchkaffeebraune Schönheit gestanden hatte, war dunkel. Aber während Ben noch hinaufschaute, bemerkte er eine Bewegung hinter einem der Vorhänge. Der Stoff wurde ein kleines Stück zur Seite gezogen, und Ben erblickte ein Gesicht mit seelenvollen dunklen Augen und fein geschwungenen Lippen.
Ihr Gesicht!
Als sie bemerkte, dass er sie entdeckt hatte, ließ sie erschrocken den Vorhang zurückfallen. Doch es war zu spät. Ben war bereits in ihrem Bann gefangen. So sehr, dass er Callumerst bemerkte, als dieser die Wagentür öffnete und sich mit einem tiefen Seufzen auf den Beifahrersitz fallen ließ.
»Lass uns bloß schnell verschwinden, Bruder«, stieß er grollend hervor. »Ich werde hier sonst noch verrückt!«
Ben hatte die Hand bereits nach dem Zündschlüssel ausgestreckt, ließ sie aber wieder sinken. »Wollen wir euren Gast nicht fragen, ob er uns begleitet?«
»Gast?« Es dauerte einen Moment, ehe Callum begriff, wen Ben meinte. Seine Miene verfinsterte sich noch weiter. »Hör endlich auf mit dem Unsinn und lass uns fahren!«
»Was soll das, Cal? Ich hab sie doch gesehen! Wer ist das Mädchen, dass du so ein Geheimnis daraus machst?«
»Das geht dich verdammt noch mal nichts an!«, entgegnete sein Freund wütend. Dann schüttelte er den Kopf. »Weißt du was, fahr allein zum Fest – ich hab keine Lust mehr.«
Er stieg aus, knallte Beifahrertür hinter sich zu und verschwand wieder im Haus.
»Idiot!« Ben drehte den Zündschlüssel und dann gab Gas. Kurz darauf ließ er Emerald Downs in einer aufwirbelnden Staubwolke zurück.
Als May drei Stunden später das Klappern des Schlüssels im Türschloss hörte, versteckte sie das Buch, in dem sie gerade las, hastig unter dem Kopfkissen. Doch es war nur ihr Cousin Callum, der gekommen war, um sie zu ihrem abendlichen Ausgang in den Garten zu lassen. Sie entspannte sich.
Seit acht Jahren lebte sie nun schon hier oben, in ihrem kleinen Zimmer im Dachgeschoss des Farmhauses. Viermal in der Woche kam ihre Tante Caroline zu ihr und gab ihr Unterricht im Rechnen, in Geschichte und Geografie. Ansonsten waren Callums Besuche und die Stunden im dunklenGarten die einzige Abwechslung in ihrem tristen Alltag. Ihren Onkel Ingram bekam sie nur sehr selten zu Gesicht – aber das konnte ihr auch nur recht sein.
Onkel Ingram machte ihr Angst. Die Art und Weise, wie er sie anschaute, jagte ihr eisige Schauer über den Rücken. Für ihn war sie der Schandfleck der Familie. Er hasste alles an ihr – ihre dunkle Haut, die schwarzbraunen Augen, das schwarze Haar. Warum sonst versteckte er sie vor der Welt und achtete tunlichst darauf, dass kein Außenstehender sie jemals erblickte?
»Kio ora, Cal!« May lächelte. »Hast du mir das Buch aus der Bibliothek mitgebracht, um das ich dich gebeten habe?«
Doch Callum erwiderte ihr Lächeln nicht. »Du musst damit aufhören«, sagte er ernst. »Mein Freund Ben hat dich am Fenster gesehen. Das hätte nie passieren dürfen! Mein Vater wird fuchsteufelswild, wenn er davon Wind bekommt!«
Schuldbewusst senkte May den Blick. Sie wusste genau, wovon Callum sprach. Ihr war der Junge gleich aufgefallen, der in seinem Wagen unten vor
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