Das Geheimnis der Maurin
wir mit beiden Religionen vertraut machen und sie später selbst entscheiden lassen.«
»Du stellst dir das alles viel zu einfach vor …« Sie schüttelte den Kopf, und erneut schossen ihr Tränen in die Augen. »Wenn ich wenigstens nicht dauernd an Adilah denken müsste. Dieser Mut, lieber zu sterben, als sich den Glauben nehmen zu lassen … Wie gering ist dagegen mein Opfer, einen Mann zu heiraten, den ich nicht liebe! Ihr Tod muss doch auch für die Lebenden etwas bedeuten!«
»Bist du dir so sicher, dass ihre Entscheidung richtig war? Und kannst du dir das auch noch sagen, wenn du dir deinen Bruder und ihr Kind ansiehst? Meinst du, Abdu wird sich je von ihrem Verlust erholen? Wird ihr Sohn je so laut und ausgelassen wie andere Kinder lachen können? Chalida, ich bin mir der Unterschiede zwischen unseren Religionen sehr wohl bewusst. Und ganz sicher werde ich jetzt und immerdar nur an den Gott der Juden, an den Ewigen, glauben, aber unsere beiden Religionen haben viele Gemeinsamkeiten, und die müssen wir suchen, und nur auf die dürfen wir uns besinnen, und nicht auf das Trennende!«
»Ach, Aaron …« Chalida seufzte tief und sah zu ihm auf, und im gleichen Moment wehte sie das gute, das heftige Gefühl an, dass der Allmächtige tatsächlich nichts dagegen haben könnte, dass sie sich liebten. Als Aaron seine Lippen den ihren näherte, fuhr sie nicht zurück, sondern schmolz unter seinen Küssen dahin. Oh Aaron, Aaron!, hämmerte es in ihrem Kopf, ich will doch auch nur mit dir zusammen sein! Und schließlich kam ihr der überraschende Gedanke, ob nicht allein wichtig war, dass es überhaupt einen Gott gab, der sie alle beschützte, und ob es nicht reichen könnte, dass sie sich einfach nach Kräften bemühten, Gutes zu tun und immer gewissenhaft ihre Gebete zu verrichten …
Obwohl Aaron sie bedrängte, sie bei ihrem Ausritt begleiten zu dürfen, bat sie ihn, nicht mitzukommen. »Ich … da geht so vieles durcheinander in meinem Kopf … Lass mir Zeit, bitte, ich muss nachdenken!«
Notgedrungen gab Aaron nach und half ihr, Barbakan zu satteln. Augenblicklich sprang Chalidas Hund herbei, doch selbst ihn wollte Chalida nicht mitnehmen. »Das nächste Mal wieder«, tröstete sie ihn und bat Aaron, darauf zu achten, dass er ihr nicht nachlief.
Als Chalida mit ihrem geliebten Hengst die freien Wiesen erreicht hatte und sie den Platz, die Weite um sich spürte, kam ihr das, was hinter ihr lag und dort weiter auf sie wartete, noch enger, noch bedrückender vor. Immer entschlossener trieb sie Barbakan an; schneller, schneller, schneller wollte sie reiten, regelrecht dahinfliegen, nicht mehr überlegen müssen, ob Aaron recht hatte und der Allmächtige diesen Schwur vielleicht nie von ihr verlangt hatte, ob es für Aaron und sie doch noch eine Hoffnung gab. Doch je schneller sie ritt, desto klarer wurde ihr, dass es vor diesen Fragen kein Entrinnen gab, und schließlich brach sie schluchzend über Barbakans Hals zusammen. Schnaubend verfiel das kluge Tier daraufhin in Schritt, blieb schließlich ganz stehen und ließ unruhig die Ohren spielen.
Als sich Chalida zu beruhigen begann, fiel ihr auf, dass sie unbewusst in Richtung der Farm der Eltern ihrer langjährigen Freundin Anisha geritten war. Früher in Granada hatten sie sich oft im Hammam getroffen, doch nachdem sie auf die Seidenfarm gezogen waren, hatten sie sich etwas aus den Augen verloren – bis auch Anishas Familie nach der Zwangstaufe der Stadt und ihren allzu neugierigen Augen und Ohren den Rücken gekehrt hatte. Seither trafen sie sich wieder häufiger. Chalida wischte sich noch einmal übers Gesicht und trieb Barbakan an, weiter in diese Richtung zu reiten, und je näher sie der Farm kam, desto größer wurde ihre Erleichterung. Ja, sie musste endlich mit jemandem über ihre Zweifel reden, und Anisha würde sie gewiss nicht verraten und wusste vielleicht sogar einen Rat!
Damit Anishas Eltern nicht sahen, dass sie ohne Begleitung durch die Wälder strich, band sie Barbakan im nahe gelegenen Wäldchen an und schlich sich von hinten an die Patiomauer an. Geschickt hangelte sie sich an dem Maulbeerbaum hoch, schwang sich über die Mauer und eilte durch den Garten in Anishas Zimmer. Als Anisha sie plötzlich vor sich stehen sah, schrak sie zusammen, lachte dann aber und umarmte Chalida herzlich. »Du bist wahrlich immer für eine Überraschung gut!«
In den Armen der Freundin kamen Chalida erneut die Tränen. »Ich befürchte nur, meine
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