Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Hilfestellung. Nicht selten staunte Bruder Thomas über ihre unkonventionellen Methoden. Aber mit Einwänden oder Fragen rückte er erst heraus, wenn sie unter sich waren.
Abends fochten sie in der Küche leidenschaftliche Dispute aus. Sie konnten stundenlang über die Lehren der Kirche diskutieren, über den Aderlass, die Wirkung der Körpersäfte, die vier Temperamente oder den Einfluss der Planetenkonstellationen auf das körperliche Wohlbefinden. Zu fast allem hatte Bruder Thomas eine andere Meinung als Anna, aber sie konnte ihn mit ihrer Logik und ihrer Argumentation – in dieser Hinsicht hatte sie viel von Aaron gelernt – immer wieder in eine Sackgasse treiben, aus der er nicht mehr herausfand. Das machte ihn wütend. Aber wenn er wütend war, dann nicht auf Anna, sondern auf sich selbst, weil er jedes Mal von Anna übertrumpft wurde, wenn sie auf den Erfolg ihrer Methoden pochte. Und der war unübersehbar.
»Der größte Feind aller Verbesserungen und des Fortschritts ist die Arroganz«, gab er zu und meinte damit die unnachgiebigen Verteidiger der kirchlichen Lehre, zu denen er letzten Endes auch gehörte.
In einem jedoch war Bruder Thomas wirklich unschlagbar und ein würdiger Nachfolger seiner Vorgängerin Esther, nämlich im Festsetzen und Eintreiben einer angemessenen Entlohnung für Annas Dienste. Anna war in dieser Hinsicht nachgiebig und ließ sich oft mit der Bezahlung vertrösten. Bruder Thomas hingegen fand stets das rechte Maß. Er hatte eine Art innerer Tabelle für alle Behandlungen und Arzneien und scheute sich auch nicht, einem säumigen Schuldner, der, wie er wusste, kein armer Schlucker war, polternd eine Szene zu machen, so dass es bald niemanden mehr gab, der bei ihnen in der Kreide stand. Selbst bei Patienten, die Aaron noch Geld schuldeten, war sich Bruder Thomas nicht zu schade, mit weltlichen oder himmlischen Drohungen daherzukommen, bis sie schließlich froh waren, ihn wieder loszuwerden, indem sie bezahlten.
Anna war bewusst, dass sie mit ihrem zunehmenden Erfolg und ihrem steigenden Ansehen, vor allem in der armen Bevölkerung, den Mächtigen und Einflussreichen ein Dorn im Auge war. Dazu kam das unausrottbare Gerücht, dass sie Wunder bewirken könne. Seit sie das kleine Mädchen beim Brunnen scheinbar durch Handauflegen wieder zum Leben erweckt hatte, sahen die Leute sie mit einer Mischung aus Furcht und Ehrfurcht an. Gegen diese Haltung konnte Anna nichts ausrichten, obwohl sie alles unternahm, den Leuten ihre Methoden zu erklären, damit sie sie verstanden. Aber die Menschen wollten das nicht hören. Gegen den Wunderglauben schien kein Kraut gewachsen zu sein. Dass ihr Ruf auch Bruder Thomas und Berbelin gefährlich werden konnte, wusste sie nur zu gut.
Sonntags besuchten Anna, Bruder Thomas und Berbelin in der Kirche St. Sebastian in Oppenheim die Heilige Messe. Fast ehrerbietig machten die Leute Platz, wenn sie das Kirchenschiff betraten und sich bescheiden einreihten. So ganz geheuer war den Menschen diese Dreieinigkeit aus Medica, Mönch und stummer Magd allerdings nicht. Anna konnte die Blicke spüren, die heimlich auf sie gerichtet waren und jede ihrer Regungen misstrauisch beobachteten. Wenn sie sich dann umdrehte, schauten die Leute schnell weg und taten so, als hätten sie nicht hingesehen.
Eines Tages, Berbelin war bereits nach Hause geeilt, weil sie das Abendessen vorbereiten sollte, machten Anna und Bruder Thomas nach der Messe einen Abstecher über die Felder außerhalb der Stadtmauern, bis sie an den Weg kamen, der zur Burg hinaufführte. Es war ein heißer Sommertag, keine Wolke war am Himmel zu sehen, und auf der Wiese unterhalb der Burg Landskron wurde schon alles für das große Turnier vorbereitet, das der Graf veranstaltete.
Viele Schaulustige hatten sich eingefunden, um dem Treiben zuzusehen. Zelte und Zuschauertribünen wurden errichtet. Die ersten Gäste trafen auf ihren Pferden ein, je nach Rang und Namen mit einigen oder gar Dutzenden Bewaffneten; alle waren prächtig herausgeputzt und in ausgelassener Stimmung. Auf schweren Wagen wurden Ausrüstungen und Baumaterial herangekarrt, es wurde abgeladen und Befehle wurden erteilt, Kinder wuselten aufgeregt umher und wussten gar nicht, was sie mehr bewundern sollten: die hohen Herrschaften oder die Rüstungen, die man schon vor den Zelten aufgehängt hatte und die von Macht und Reichtum ihrer Besitzer kündeten. Viele Zelte waren eigens für dieses festliche Turnier hergestellt worden. Manche, vor
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