Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
allem die in den vorderen Reihen, die den Ranghöchsten gehörten, waren aus kostbarer orientalischer Seide gefertigt, üppig bestickt und durchwirkt mit Gold- und Silberfäden. Aber auch die einfacheren Zelte zeugten vom Rang ihrer Besitzer und waren mit Ornamenten und Wappen verziert.
Anna und Bruder Thomas setzten sich in den Schatten einer großen Buche und sahen dem bunten Treiben eine Weile zu. Bruder Thomas öffnete seine Tasche, die er, zu Annas Verwunderung, mit sich getragen hatte, und entnahm ihr ein großes weißes Tuch, das er auf dem Boden ausbreitete. Darauf legte er seine Grundnahrungsmittel, wie er es nannte, ohne die er nie das Haus verließ: Brot, Käse und Schinken, dazu ein prall gefüllter Lederschlauch mit Wein, sogar zwei Tonbecher hatte er nicht vergessen. Und natürlich sein scharfes Messer, mit dem er großzügige Scheiben vom Brot abschnitt und sie mit Schinken und Käse belegte und eine davon an Anna weiterreichte. Sie aßen und tranken, und schließlich hob Bruder Thomas an zu sprechen.
»Medica«, fing er zaghaft an, »Medica, darf ich Euch eine Frage stellen?«
Anna sah die Handwerker und ihre vielen Helfer beim Errichten der Ehrentribüne, die flatternden Wappenfahnen der Ritter, die vor den Zelten aufgestellt wurden, sie hörte die Sägen, Hämmer und Hau-ruck-Rufe und dachte an das Turnier und an Chassim, den begeisterten Turnierkämpfer, ob sie ihn wiedersehen würde und ob er überhaupt Notiz von ihr nehmen würde … Sie seufzte innerlich, der ungewohnt starke Wein in der Mittagshitze trug sein Übriges zu ihrer melancholischen Stimmung bei.
Sie hatte die Frage von Bruder Thomas wie aus weiter Ferne vernommen, drehte sich zu ihm um und sah ihn an.
»Entschuldigt, ich war in Gedanken. Ihr wolltet mich etwas fragen, Bruder Thomas?«, sagte sie und hielt ihm auffordernd ihren leeren Becher hin.
Er schenkte ihr Wein aus dem Schlauch nach und nickte. »Ja, schon lange. Aber ich habe mich, ehrlich gesagt, nicht getraut. Weil es mir zu … nun: zu vertraulich erschien. Und da wir uns noch nicht so gut kannten …«
»Ihr macht es spannend, Bruder Thomas. Also, wie lautet die Frage?«
»Wer seid Ihr, Medica?«, sagte er endlich.
Und nach einem Schluck Wein aus ihrem Becher, der köstlich schmeckte, begann Anna, ihm ihre Geschichte zu erzählen, und war froh und erleichtert, sich endlich jemandem anvertrauen und ihr Schicksal mit jemandem teilen zu können.
Als sie mit ihrer Schilderung fertig war – nur ihre Gefühle für Chassim hatte sie für sich behalten –, schwiegen sie beide eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. Bruder Thomas trank ein paar kräftige Schlucke von seinem Wein.
Dann sagte er: »Und ich habe immer geglaubt, dass Gott mir besonders schwere Prüfungen auferlegt hat. Aber gegen Eure Erlebnisse ist meine Geschichte ja nur Firlefanz. Was machen wir jetzt?«
Sie lächelte. »Was wir machen? Wir verfallen nicht in Trübsal, sondern gehen nach Hause und machen weiter. Was sonst?«
Er sah sie an und nickte. »Ja. Ihr habt recht. Das ist das Einzige, was uns übrig bleibt. Machen wir weiter.«
Er stand auf, und sie räumten ihre Essensreste zusammen und packten alles wieder in seine Tasche. Dann traten sie den Heimweg an.
VIII
A nna und Bruder Thomas schlenderten gemächlich zwischen den bunten Zelten zur Stadt zurück, als Anna plötzlich stehen blieb. Sie hatte in zweiter Reihe ein blau-weiß gestreiftes Zelt entdeckt, mit einem Wappen, das ihr bestens bekannt war: eine schwarze Greifvogelklaue auf goldenem Grund, das Zeichen derer von Greifenklau. Bruder Thomas war ein paar Schritte weiter gegangen und wartete auf sie.
»Geht nur schon zu«, rief sie ihm so beiläufig wie möglich nach. »Ich habe noch etwas zu erledigen.«
Anna wartete, bis er in der Menschenmenge verschwunden war, und bummelte dann, wie die anderen neugierigen Schaulustigen auch, zwischen den Zeltreihen entlang, wo sie vorgab, sich für die zahlreichen Rüstungen und Wappenschilde zu interessieren. In Wirklichkeit äugte sie jedoch nur zum weiß-blauen Greifenklau-Zelt hinüber, ob sich dort irgendetwas tat.
Überall waren eifrige Knappen und Knechte mit Aufbau und Einräumen beschäftigt, Holzkeile für Spannschnüre wurden in den Boden gehämmert, Pferdeburschen striegelten und tränkten die Rosse ihrer Herren oder führten sie zur großen Koppel, wo sie frei grasen konnten.
Plötzlich blieb Anna wie angewurzelt stehen. Einen Katzensprung entfernt wurde eben ein Zelt mit
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