Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
betreten an. Anna dachte nach.
Bruder Thomas hob den Becher an seine Lippen und wollte gerade den ersten Schluck nehmen, als sie ihn unvermittelt fragte: »Könnt Ihr schreiben?«
Verblüfft setzte er den vollen Becher wieder ab und sah sie an. »Fragt Ihr den Papst, ob er das Vaterunser aufsagen kann? Natürlich kann ich schreiben. Ich war, bevor ich zum Infirmarius geschult wurde, zwei Jahre lang im Skriptorium vom Kloster Weingarten tätig. Man hat mir nachgesagt, dass ich die schönste Feder von ganz Schwaben führe.«
Mit einem leichten Anflug von Hoffärtigkeit trank er nun den Wein in einem Zug aus.
»Ah, deshalb die Entschuldigung für Eure Flüche.«
»Was meint Ihr?«, fragte er betont naiv.
»Eure Bitte um Vergebung. Parce mihi, Domine, qui es Sueba sum. Sei mir gnädig, Herr, weil ich Schwabe bin.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das ist so eine Redensart von mir. Ich bin in Schwaben geboren.«
»Man hört es manchmal, wenn Ihr Euch aufregt«, stichelte Anna.
»Ich rege mich grundsätzlich nie auf. Ich bin die Ruhe in Person!«, sagte er so aufgebracht, dass Anna trotz der ernsten Lage lächeln musste.
»Jedenfalls trifft es sich gut, dass Ihr in einem Skriptorium gearbeitet habt«, befand sie und wandte sich an Berbelin, die hereingekommen war und anfing, sich am Herd um das Feuer zu kümmern und Holz nachzulegen.
»Berbelin – kannst du uns ein Pergament bringen, dazu Siegelwachs, Feder und Tinte?«
Berbelin nickte und eilte hinaus.
»Was habt Ihr vor?«, wollte Bruder Thomas wissen.
»Ich?«, fragte Anna betont unschuldig. »Ich habe gar nichts vor. Ihr werdet es tun.«
»Ich? Was meint Ihr – was werde ich tun?«
»Ihr werdet eine Dispens von Eurem Abt aus Weingarten schreiben. Mit allem, was so dazugehört. Ausgestellt auf Euren Namen. Und die zeigt Ihr morgen dem Burgkaplan. Euer Abt … wie war noch gleich der Name?«
»Abt Hugo von Montford.«
»Genau. Abt Hugo von Montford gibt Euch die ausdrückliche Erlaubnis, als Bettelmönch Eures Ordens durch die Lande zu ziehen, seelsorgerisch tätig zu sein, Euch um Kranke und Bedürftige zu kümmern und erteilt Euch für Eure schwierige Aufgabe ausdrücklich Gottes Segen.«
Bruder Thomas staunte Anna mit offenem Mund an, als hätte sie ihm gerade verkündet, dass am nächsten Tag das Jüngste Gericht stattfinden und er den Vorsitz führen würde. Er wiederholte noch einmal, um ganz sicherzugehen, dass er sie richtig verstanden hatte: »Ihr meint … ich soll eine Dispens von Abt Hugo von Montford … fälschen?«
Anna zuckte mit den Schultern und sagte munter: »Seht Ihr eine andere Möglichkeit?«
Bei Bruder Thomas war schließlich der Groschen gefallen, er schüttelte den Kopf und grinste. »Ich habe immer schon geahnt, dass Ihr durchtrieben seid. Aber dass Ihr so durchtrieben seid – Herrgott im Himmel!« Es folgte sein obligatorischer Blick nach oben und ein flüchtiges Bekreuzigen. Er wollte sein » Parce mihi …« anschließen, ließ es aber nach zwei Worten bleiben.
»Ich glaube schon seit längerem nicht mehr daran, dass es hilft, die andere Wange hinzuhalten, wenn man geschlagen wird«, sagte Anna. » Zweiter Mose, Vers 21. Auge um Auge, versteht Ihr? Ich jedenfalls werde mich wehren.«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn, Brief um Brief – ob der Erzbischof mit Eurer Bibelauslegung einverstanden wäre, bezweifle ich«, bemerkte Bruder Thomas und kratzte sich unsicher am Kopf.
»Vor Gott sind alle Menschen gleich. Die Bibel ist nicht nur für den Erzbischof geschrieben worden, oder?«
Bruder Thomas bekreuzigte sich schnell und senkte die Stimme, als er erwiderte: »Anna, seid vorsichtig mit dem, was ihr sagt. Es sind schon Leute für weniger auf dem Scheiterhaufen gelandet. Das ist Ketzerei !«
»Nein. Das ist eine Tatsache. Der Burgkaplan will Euch auf den Zahn fühlen«, erwiderte Anna.
»Und Euch spüren lassen, dass Ihr als Nächste an der Reihe seid.«
»Ja, die Daumenschrauben ein wenig anziehen. Aber ich denke nicht daran, vor ihm zu zittern. Und Ihr? Wollt Ihr das alles tatenlos über Euch ergehen lassen?«
»Nein. Nein, das will ich nicht.«
»Ihr habt mir einmal gesagt: Das Einzige, das wir tun können, ist, uns auf die Seite derer zu stellen, die es nicht noch schlimmer machen. Und genau darauf haben es der Burgkaplan und seine Handlanger abgesehen: uns davon abzuhalten, dass wir unsere Bestimmung erfüllen. Weil wir mit dem, was wir tun, ihre Autorität in Frage stellen. Damit gefährden wir
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