Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
hörte man ja, wo sie die Viecher hintreiben wollten. Aber ein Hengst blieb zurück, und ich bin dann noch mal rein, um ihn zu suchen. Mit der Streitaxt, falls mir ein Schwein begegnet ... Tja, und dann hörte ich ein Pferd, und das rannte ohne Reiter an mir vorbei, und ich dachte, ich such mal den Reiter, aber da braucht ich nicht weit zu gehen. Ein paar Schritte entfernt stand der Junge mit seinem Holzschwert, den Rücken an einer Buche, und der Keiler rannte auf ihn zu. Der Knabe war auch ganz tapfer, schmiss erst mal einen Ast nach dem Biest, aber das kann ja so einen Keiler nicht aufhalten ... Jedenfalls hab ich das Vieh erschlagen.« Kaspar bemerkte das so beiläufig, als habe er nur eben einem Huhn den Hals umgedreht.
»Mit der Axt?«, fragte Gerlin beeindruckt.
Der Mann nickte. »Ja, Herrin. Ich bin ganz geschickt darin, das Ding zu werfen. Hab dem Schwein damit den Schädel gespalten. Heute Abend habt Ihr Wildschwein auf der gräflichen Tafel.«
»Der Festschmaus sollte eher dir und deinem Sohn zufallen«, bemerkte Salomon.
Kaspar zuckte die Schultern. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sein Sohn und er sich an die Jagdverbote im gräflichen Forst hielten. Wahrscheinlich aßen sie öfter Wild als die Ritter auf der Burg.
Gerlin nahm spontan eine fein ziselierte silberne Fibel von ihrem Gewand und gab sie dem Hirten. »Dies ist für dich, Kaspar, als Dank von deiner künftigen Gräfin. Ich bin dem Herrn Dietrich versprochen - wie es aussieht, verdankt mein künftiger Gatte dir sein Leben, und ich verdanke dir damit auch das meine. Wir sind dir auf ewig verpflichtet. Solltest du jemals eine Gunst erbitten wollen, so ist sie jetzt schon gewährt.«
Kaspar errötete und drehte die Fibel ungläubig in seinen großen, klobigen Händen. »Nicht nötig, Herrin, hab ich gern getan. Und ich wollt jetzt auch nur das Pferd zurückbringen. Gestern hat's stark gelahmt, da hab ich's lieber unten behalten. Aber jetzt geht's schon, der Herr kann's in ein paar Tagen wieder reiten. Nur ... mein Junge hat da halt diesen Pfeil gefunden ... und da dachte ich, ich melde das.«
»Du hast äußerst umsichtig gehandelt!«, lobte auch Florís.
»Also ist Dietrich das Pferd gar nicht durchgegangen«, meinte Gerlin aufgebracht. »Was für ein infamer Streich! Er grämt sich bis jetzt darüber, und die anderen lachen ihn aus ...«
Gleich darauf biss sie sich auf die Lippen. Herr Salomon und Herr Florís maßen sie mit gleichermaßen erstaunten Blicken. Woher sollte sie schließlich wissen, worum Dietrich sich grämte? Aber das war jetzt egal - auch die Männer fragten nicht nach.
»Ein Streich?«, erregte sich Florís stattdessen. »Seid nicht naiv, Fräulein Gerlin, das war kein Streich, das war ein Mordversuch! Denkt doch mal nach: Da organisiert man von einem Moment zum anderen eine Wildschweinjagd. Mit ein paar Knappen - das ist schon Leichtsinn genug -, außerhalb der Jagdzeit und ohne bekannt zu geben, dass der Wald zu räumen ist. Und dann schießt man einen Pfeil auf Dietrichs Pferd ab und treibt es damit in den Kessel. Wer das tat, hat zumindest billigend in Kauf genommen, dass er sich erst das Genick bricht und dann von den Hauern der Wildschweine aufgespießt wird! Und wenn Ihr mich fragt: Er hat drauf gehofft!«
Florís verzichtete für Gerlin erstmalig auf jede höfische Rede.
Salomon nickte. »Man muss es genau so sehen«, bestätigte er. »Auch wenn der Plan mir nicht sehr ausgereift zu sein schien. Aber unzweifelhaft nutzte jemand die Gunst der Stunde! Lasst unseren jungen Freund in Zukunft nicht unbeobachtet, Florís! Er wird erst sicher sein, wenn er seine Schwertleite gefeiert hat.«
Florís legte die linke Hand auf sein Herz und die rechte auf den Knauf seines Schwertes. Er würde tun, was er konnte. Aber Gerlin wusste es besser. Nicht die Schwertleite garantierte Dietrichs Leben. Sicher war die Position des Erben erst, wenn er sie geheiratet hatte. Und geschwängert.
Kapitel 6
U m die Mittagszeit erreichte Gerlin überraschend eine Nachricht der Herrin Luitgart. Sie bat die Herrin von Falkenberg und ihren Bruder Rüdiger an diesem Abend zum festlichen Bankett im Rittersaal. Die Dienerin erklärte, es würden alle Knappen und Ritter anwesend sein - Gerlin sollte Dietrich also offiziell kennenlernen.
Eigentlich gelüstete es Gerlin nicht mehr, Luitgart vorher noch einmal zu sehen, aber sie mochte auch nicht den ganzen Nachmittag in ihrer Kemenate verbringen. Selbst ein Bad und intensive
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