Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
Schönheitspflege würden sie nicht die ganze Zeit beschäftigen. Also beschloss sie, die Burg noch ein wenig zu erkunden. Dietrich hatte gesagt, dass die Frauen vom Söller aus dem Ritterspiel zusehen konnten, und so suchte sie den Turm oberhalb der Frauengemächer auf. Er bot eine grandiose Aussicht über das Dorf unterhalb der Burg und die weitläufigen Wälder, in denen Dietrich am Tag zuvor fast den Tod gefunden hatte. Gerlin schauderte.
Aber dann schaute sie in den Burghof hinunter und sah die Knappen beim Ballspiel. Dietrich war an seinem blonden Haar und seiner hohen Gestalt leicht zu erkennen. Gerlin befand ihn als den schönsten der Knaben. Allerdings schien er leicht zu ermüden. Schon nach kurzer Zeit räumte er seine Position und schob Rüdiger an seine Stelle. Gerlin überlegte, ob sie ihn irgendwie auf sich aufmerksam machen sollte, doch Luitgarts Stimme riss sie jäh aus ihrer Versunkenheit.
»Versteht Ihr jetzt, was ich meine, Edle von Falkenberg? Mein Stiefsohn ist ein hübscher Junge, aber nicht sehr belastbar.«
»Heute Morgen wurde ich Zeugin, wie er seinen Gegner vom Pferd tjostete«, bemerkte Gerlin gelassen, ohne sich zu ihr umzuwenden.
Luitgart lachte. »Den ersten vielleicht. Und täuscht Euch nicht - die Knappen lassen ihn gewinnen. Wenn es ehrlich zugeht ...«
Gerlin zuckte die Schultern. »Sei's drum, dann wird er das Turnier zur Feier seiner Schwertleite eben nicht gewinnen. Vielleicht beschränkt er sich sogar nur auf einen Schaukampf. Ihr sagt es ja selbst: Die Ritter messen sich ungern in fairem Kampf mit dem Herrn einer Burg, und ein Sieg im eigenen Turnier hinterlässt immer einen faden Nachgeschmack.«
»Er hat auch gestern auf der Jagd sein Ungeschick bewiesen«, sagte Luitgart. »Zumindest hörte ich so etwas.«
Gerlin fuhr herum und maß ihre zierliche, aufrechte Gestalt mit scharfen Blicken. »So, das hörtet Ihr! Zweifellos vom Waffenmeister der Knappen, der die Jungen doch gerade vor ihrem Ungeschick bewahren sollte. Ich hörte jedoch anderes, Frau Luitgart. Nach dem, was man mir erzählte, stand Herr Dietrich mit gezücktem Schwert vor einem wilden Eber und trieb ihn damit einem erfahrenen Jäger vor die Waffe. Und wenn dieser Hof einen Sänger aufzuweisen hat - Edle von Ornemünde -, so werde ich ihn bis heute Abend finden, und er wird ein Lied über diese erste Heldentat vortragen, mit der ein Jüngling seine Minnedame ehrte!«
Mir diesen Worten warf Gerlin sich herum und verließ den Söller. Ein zumindest mittelmäßiger Troubadour sollte sich auftreiben lassen. Und die Verse würde sie ihm im Notfall selbst schreiben!
Am Abend trat Gerlin von Falkenberg dann in vollem Feststaat vor den Hof von Lauenstein. Sie trug das Gewand, das sie für ihr erstes Treffen mit Dietrich genäht hatte, und natürlich seine Armreife. Ihr Haar hielt ein breites, goldbesticktes Stirnband aus dem Gesicht, das sie jedoch zunächst hinter einem durchscheinenden lichtblauen Schleier verborgen hielt. Roland von Ornemünde machte allerdings ihre Absicht zunichte, es an diesem Abend nur ihrem versprochenen Gatten zu enthüllen.
Er empfing die Gäste an der Seite der Frau Luitgart, die zu diesem Anlass ein golddurchwirktes Obergewand aus Brokat über einem apfelgrünen Unterkleid trug. Nur das züchtige Gebende um ihr Haupt, gekrönt von einem Goldreif, verwies auf ihren Witwenstand.
Roland von Ornemünde war hochgewachsen wie sein Verwandter, aber natürlich erheblich kräftiger. Gerlin war eigentlich entschlossen, ihn nicht zu mögen, aber sie konnte nicht umhin zuzugeben, dass er ein gut aussehender Mann war. Er trug sein goldbraunes Haar nach Ritterart lang, den Bart kurz. Sein Gesicht war kantig und leicht gebräunt, die blauen Augen weit auseinanderstehend, aber vielleicht etwas klein und stechend.
Frau Luitgart betrachtete Roland mit unverhohlener Zuneigung, und Gerlin konnte das durchaus nachvollziehen. Gerade nachdem die junge Frau einen alten Gatten zu Grabe getragen hatte, musste ihr dieser schöne Ritter als Geschenk des Schicksals erscheinen. Allerdings war dies kein Grund, auf gewaltsame Art in Dietrichs Schicksal einzugreifen. Sollte sich Roland von Ornemünde doch sein eigenes Lehen erwerben!
»Nun, da haben wir ja die Bewerberin um die Hand unseres kleinen Dietrich!«, begrüßte er Gerlin launig. »Lasst Euch küssen, Verwandte!« Ohne großes Federlesen hob der Ritter Gerlins Schleier an und erbot ihr den Bruderkuss.
Gerlin war unangenehm berührt. Von Luitgarts
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