Das Geheimnis der Puppe
dämmerte bereits, und sie hatte sich eine Lektüre mitgebracht. Das schäbige kleine Tagebuch. Den Verschlußriegel hatte Laura inzwischen zerschnitten. Sie begann gleich zu blättern.
»So eines hatte ich auch mal«, erklärte sie dabei.
»Ein Geburtstagsgeschenk von Vati, als ich zehn wurde.«
Sie lachte, es klang ein wenig gehässig.
»Damit ich nicht wegen jeder Kleinigkeit zu meiner Mutter rennen mußte. Da konnte ich die Kleinigkeiten dann aufschreiben.«
Noch so ein kleines, böses Lachen.
»Damals habe ich immer gedacht, ein Tagebuch sei nur etwas für Kinder, die mit keinem Menschen reden konnten. Da habe ich mich wohl geirrt.«
Dann schwieg Laura, beschwerte sich nur noch einmal über die Schrift, die kein Mensch lesen könne, und vertiefte sich mit konzentriert gerunzelter Stirn in die Eintragungen, die Steiner vor mehr als dreißig Jahren gemacht hatte. Ab und zu murmelte sie ein Wort vor sich hin, das sie nicht gleich entziffern konnte. Und schließlich kam sie zu mir auf die Couch, hielt das aufgeschlagene Buch so, daß ich ebenfalls hineinschauen konnte. Die Handschrift war wirklich eine Katastrophe. Nur mit großer Mühe brachten wir die einzelnen Worte zu Sätzen zusammen. Manchmal errieten wir den Sinn eines Satzes nur aus der Konstellation von zwei oder drei Worten. Steiner hatte seine Eintragungen nicht täglich gemacht. Und meist ließ er sich nur ausführlich über die Liebe zu seiner Frau aus. Wie sehr er sie vermißte, wie sehr er sie bewunderte, wieviel sie ihm bedeutete. Ihr Name tauchte immer wieder auf. Im Januar hatte Steiner anscheinend eine halbe Nacht lang geschrieben.
»Der Abschied hat mich fast zerrissen. Sechs Wochen werden es diesmal sein. Ich darf nicht darüber nachdenken, Nächte, ehe ich Elisabeth wieder bei mir habe.«
In diesem Tenor ging es über vier Seiten, Einsamkeit, Sehnsucht, meine geliebte Elisabeth, meine göttliche Elisabeth, meine süße, meine schöne, meine hinreißende Elisabeth.
»Ich dachte immer«, sagte Laura spöttisch, »daß Anwälte nüchtern und sachlich sind. So eine Gefühlsduselei kenne ich bei Vati nicht.«
Nach einem Hinweis auf ihre Mutter suchte sie jedoch vergeblich. Mit jeder Eintragung, die sie mühsam entziffert hatte, verlor sich ihr Interesse. Doch dann flammte es noch einmal auf.
»Hat Vati nicht etwas von einer Tochter gesagt.«
Als ich nickte, zeigte Laura auf einen kurzen Absatz. Die Eintragung war von August.
»Seit Tagen trage ich diesen schlimmen Verdacht mit mir herum«, hatte Steiner geschrieben.
»Ich glaube, sie ist schwanger. Es darf einfach nicht sein. Alles wäre zu Ende, wenn es so wäre. Sie spricht nicht mit mir darüber. Sie weicht mir aus. Und ich kann sie nicht fragen. Ich kann mich nicht aufraffen. Sie schnürt sich den Leib, damit ich es nicht bemerke, aber ich bin doch nicht blind. Meine süße Elisabeth, was soll nur werden.«
»Und im November«, sagte Laura, »gab sie ihr letztes Konzert.«
Sie klang irgendwie zufrieden, schaute mich von der Seite an, grinste sogar.
»Dann kam das dritte Kind, und die göttliche Elisabeth mußte ihre Karriere an den Nagel hängen.«
Ihr Blick hing immer noch an meinem Gesicht.
»Warum hat sie versucht, ihre Schwangerschaft vor ihm zu verbergen?«
Als ich mit den Schultern zuckte, drängte Laura:»Nun komm schon, du bist doch der Mann mit der blühenden Phantasie. Soll ich es dir sagen? Weil das Kind nicht von ihm war. Erinnerst du dich nicht, daß Vati etwas in der Art erzählte? Es hieß, er hätte sie betrogen oder sie ihn. Bitte schön, sie ihn. Das kannst du doch an drei Fingern nachzählen. Im Januar war sie auf Tournee, sechs Wochen lang. Im August stellt er fest, daß sie sich den Leib schnürt. Da muß sie schon ziemlich weit gewesen sein.«
»Und dann?«
fragte ich.
»Was ist aus dem Kind geworden?«
Laura seufzte vernehmlich.
»Vielleicht hat sie es weggegeben?«
»Dann hätte sie ihre Karriere nicht aufgeben müssen.«
Laura klappte das Buch zu.
»Vielleicht ist es tot geboren. Wenn sie sich den Leib geschnürt hat. Und vielleicht war die göttliche Elisabeth darüber so schockiert, daß sie nicht mehr spielen konnte.«
Nach ein paar Sekunden Schweigen stellte Laura fest:»Jedenfalls dürfte hier nicht alles so gewesen sein, wie es nach außen den Anschein hatte. Und meine Mutter ist auch ein sensibler Mensch.«
Gegen zehn hörten wir beide, daß Danny in unserem Bad zur Toilette ging. Kurz nach elf gingen wir ebenfalls zu Bett.
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