Das Geheimnis der Puppe
reagierte das Kind. Er war nahe daran, zu resignieren.
»Wie soll man sich mit dir verständige?« , sagte er, »wenn du nicht einmal verstehst, daß ein Mensch hungrig und durstig ist.«
Und da griff es nach der Flasche. Es ließ ihn trinken, holte zwei Kekse für ihn aus dem dunklen Winkel und fütterte ihn damit. Jetzt hatte er begriffen.
»Du kennst schon ein paar Worte, nicht wahr?«
sagte er.
»Mal sehen, ob du noch mehr kennst, als diese beiden.
Ich brauche Hilfe. Du mußt noch einmal hinausgehen. Wenn man dich sieht, wird bestimmt jemand kommen. Hilf mir. Hol einen Menschen her. Ich kann nicht ewig hier so liegen.«
Das Kind ließ keinen Blick von seinem Mund. Aber auf einen Ausdruck des Verstehens wartete der Mann
vergebens.
Nach einer Weile nahm es seinen Kopf mit beiden Händen ein wenig hoch, schob sich darunter und legte sich den Kopf in den Schoß. Jetzt hatte er das kleine Gesicht dicht vor dem seinen. Er preßte einmal kurz die Lippen aufeinander, stieß die Luft aus und fragte zögernd:
»Warum tust du das? Ich habe nie etwas für dich getan?«
Es schaute ihn nur an, ohne Ausdruck, ohne Gefühl. Dennoch glaubte er, eine Art von Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
»Du bist ein merkwürdiges Kind«
, sagte er.
»Aber es ist gut, daß du da bist. Ich habe mir eingeredet, deine Mutter hätte dich mitgenommen, als sie mich verließ, und ich hätte in Wahrheit gar nichts gehört, als ich die Kammer verriegelte. Aber es ließ mir keine Ruhe. Ich mußte mich schließlich davon überzeugen. Und jetzt hilfst du mir.
Weißt du denn nicht, wer ich bin?«
Das Kind strich ihm über die Wange und beugte den Kopf noch ein wenig tiefer hinunter. Das Haar kitzelte ihn am Hals, als es vorsichtig mit den Lippen über seine Stirn streifte.
»Ich bin der, der dich eingesperrt hat«, sagte der Mann.
»Ich nehme an, ich bin dein Vater.«
Dann schwieg er eine Weile, schloß die Augen und fühlte die kleinen Finger auf seinem Gesicht, manchmal auch die Lippen oder die Wange des Kindes. Schließlich sprach er weiter.
»Sie hat es mir verschwiegen, hat nie ein Wort gesagt. Ganz allein hat sie dich auf die Welt gebracht. Dann hat sie dich vor mir versteckt. Aber ich war nicht blind. Und ich war auch nicht taub. Manchmal, wenn ich morgens hier herunterkam, hörte ich dich weinen. Ganz schwach nur, und ich wollte es nicht wahrhaben. Niemand von uns wollte das. Wir alle haben so getan, als ob es dich nicht gibt.«
Und das Kind hörte ihm zu, Stunde um Stunde. Still und reglos saß es da, nur die kleinen Hände bewegten sich. Später an diesem Tag fand er das Wort, das für ihn zur Hoffnung wurde. Draußen. Das Kind verließ ihn widerstrebend. Nach mehr als einer Stunde kam es zurück. Der Saum seines Kleides war feucht. Und am nächsten Tag deutete der Mann auf die leere Milchflasche.
»Durst«, sagte er, »draußen«
. Mit den Lippen bekam er ein Stück Kleidersaum zu fassen. Er zerrte daran, hielt den Stoff zwischen den Zähnen fest.
»Das meine ich« , sagte er. »Draußen ist Wasser, ich bin durstig.«
Es verstand ihn, aber die Flasche beachtete es nicht. Stieg die Treppe hinunter, er horchte den Schritten nach, die einmal kurz Halt machten und sich dann entfernten. Das Warten wurde ihm zur Qual, und endlich kam es zurück. Es hatte einen Becher bei sich, zur Hälfte gefüllt mit trübem Wasser. Nachdem der Mann davon getrunken hatte, setzte es sich neben ihn, nahm wieder den Kopf in den Schoß. Sechs Tage lang saß das Kind bei dem Mann auf der Treppe. Es verließ ihn nur, um Nahrung und Wasser für ihn zu holen. Und jeden Tag schickte er es hinaus, hoffte immer, daß jemand aufmerksam wurde, daß Hilfe kam. Am Abend des sechsten Tages hörte das Kind die Stimme der zweiten Frau. Voller Erwartung schaute es zum Ende der Treppe hin. Der Mann war eingeschlafen. Doch er erwachte, als die Stimme lauter wurde. Dann erschien das Gesicht der zweiten Frau am Fuß der Treppe. Und es verzerrte sich sofort, wurde ganz bleich.
»O nein« , murmelte die zweite Frau. Sie faßte sich erst nach einer Weile. »Das kann doch nicht sein« , murmelte sie. Dann kam sie hinauf, beugte sich über den Mann und sagte: »Gib mir das Kind. Gib es mir. Damit hast du nichts zu schaffen.«
Und sie nahm das Kind auf den Arm, wie sie es immer getan hatte. Barg den kleinen Körper in ihrer Schürze, drückte sich den Kopf gegen die Schulter. Und selbst durch den Stoff fühlte es die Tropfen, die von ihrem Gesicht
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