Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
wurde, einen anderen dazu bringen, die Gabel in die Hand zu nehmen. Und dennoch hatte sie es selbst erlebt. Während des Gesprächs mit dem Entführer war ihr wirklich ihr Großvater erschienen. Ungeachtet der Tatsache, dass Erscheinungen und Visionen für sie eindeutig in das Fachgebiet der Psychopathologie gehörten.
Sie forschte nach einer wissenschaftlichen Erklärung für all das Sonderbare, das ihr widerfuhr, und wurde darüber allmählich müde. Irgendwann überwog die Erschöpfung die Angst um ihre Kinder, und sie fiel endlich in einen tiefen Schlaf …
Kapitel 14
N ach dem Tod Mechthild von Helftas hielt Maria nichts mehr in Straßburg. Von der Sehnsucht nach ihrem Bruder getrieben, hatte sie sich den Namen Marius zugelegt und war als Mönch verkleidet zu Fuß nach Venedig gegangen. Dort hatte sie das Schiff nach Zypern genommen, weil der reisende Dominikaner ihr im Kloster zu Straßburg erzählt hatte, dass er Johannes und Christian auf der Mittelmeerinsel getroffen habe. Nachdem sie die Adria verlassen hatten, gerieten sie in der Ägäis in einen schweren Sturm. Hohe schwarze Wellen warfen das Schiff wie eine Nussschale hin und her, während der Regen ihre Kutte peitschte und sie in kürzester Zeit vollkommen durchnässte. Das Rollen der Wellen klang wie das Grollen des Teufels. Sie war kreidebleich. Ein Seemann rief ihr etwas zu, was sie aber nicht verstand, und winkte ihr zu. Sie kroch über die wasserglatten Planken des Schiffes zu ihm und verschwand mit ihm in den Bauch des Schiffes. Dort kauerten die Reisenden zwischen Waren, vornehmlich teuren Stoffe, Geschirr aus Gold sowie Glaswaren und Waffen, und hofften, dass Gott ein Einsehen haben und sie aus der Not erretten würde. Nach weiteren drei Tagen ging sie in Famagusta von Bord. Zyperns Hafenstadt wirkte vor dem Gebirge, das sich hinter der Stadt erhob, wie ein Meer aus weißem Kalk. Selbstbewusst und entschlossen, den Muslimen Widerstand zu leisten, ragten die Türme von Kirchen, Klöstern und der Templerfestung in den Himmel. Da sie keine Dominikaner auf der Insel fand, beschloss sie, bei den Templern nach Christian zu fragen. Ein deutscher Geistlicher der Rittermönche namens Hermann, mit dem Maria in ihrer Verkleidung als Mönch Marius ins Gespräch kam, erinnerte sich noch an die beiden Dominikaner, die vor zwei Jahren auf der Insel gelandet waren, weil der ältere der beiden Mönche, Bruder Johannes, bereits krank vom Schiff getragen wurde. Er hatte die harte Seeluft nicht vertragen und hustete in einem fort. Der Jüngere, Bruder Christian, kümmerte sich rührend um seinen Lehrer, ohne sich selbst zu schonen. Er machte die besten Ärzte für ihn ausfindig, auch Juden, die als besonders bewandert in der Heilkunst galten, und erwarb von Apothekern die seltensten Arzneien. Doch alle seine Pflege half nichts, drei Tage nach der Ankunft spuckte der alte Dominikaner Blut, fünf Tage später empfahl er seine Seele Gott. Obwohl der Ordenspriester Hermann dem Dominikaner die letzte Ölung spendete, hatte er doch nicht mitbekommen, worüber sich Lehrer und Schüler in den letzten Stunden unterhalten hatten. Auf Marias Bitten hin brach er mit ihr zum Friedhof auf, um ihr das Grab von Bruder Johannes zu zeigen.
Der kleine Friedhof hinter der Kirche der Zisterzienser bestand aus einer Reihe von Gräbern, die entweder nur ein Holzkreuz oder ein graues aus Stein schmückten. Der Ordenspriester ging voran, passierte ein Grab mit einem riesigen, von einem Kreis gefassten Tatzenkreuz, dem stolzen Symbol der Templer, das offenbar den Beginn des Gräberfelds des Ordens der Kriegermönche markierte, hielt sich dann links, um schließ lich vor einem kleinen Kreuz aus Pinienholz stehen zu bleiben.
»Das ist es. Hier liegt Bruder Johannes begraben«, sagte er wie nebenbei. Dann verabschiedete er sich und schenkte dem zart gebauten Mönch, der sich eine so gefährliche Reise zumutete, aus einer Regung seines Herzens heraus einen Dolch mit einer Damaszenerklinge, der dem Dominikaner wenigstens den Schatten einer Chance gewähren würde, sich zu verteidigen. Dann ließ er ihn allein. Was er tun konnte, hatte er getan.
Voller Liebe schaute Maria auf das Kreuz, sank in die Knie und begann, für das Seelenheil des toten Mönchs, der ihrem Bruder und ihr das Leben gerettet hatte, zu beten. Sein Tod schmerzte, schließlich war sie ihm nicht nur dankbar, sondern sie hatte ihn gemocht, vielleicht sogar geliebt, seine Klugheit, seine Menschlichkeit, seinen einfachen
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