Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
gingen, brauchten sie sich nicht umzuwenden; immer gingen sie in der Richtung eines ihrer Angesichter. 10 Ihre Angesichter waren vorn gleich einem Menschen und zur rechten Seite gleich einem Löwen bei allen vieren und zur linken Seite gleich einem Stier bei allen vieren und hinten gleich einem Adler bei allen vieren. 11 Und ihre Flügel waren nach oben hin ausgebreitet; je zwei Flügel berührten einander und mit zwei Flügeln bedeckten sie ihren Leib. 12 Immer gingen sie in der Richtung eines ihrer Angesichter; wohin der Geist sie trieb, dahin gingen sie; sie brauchten sich im Gehen nicht umzuwenden. 13 Und in der Mitte zwischen den Gestalten sah es aus, wie wenn feurige Kohlen brennen, und wie Fackeln, die zwischen den Gestalten hin und her fuhren. Das Feuer leuchtete und aus dem Feuer kamen Blitze…
Hesekiel 1,4-13, Lutherbibel
Rückblick – Neapel, 31. Juli a. d. 1626
Vier Männer stürmten ihr Haus. Sie trugen blinkende Harnische und hatten rötlich schimmernde Masken vor ihren Gesichtern. Ihre Mäntel breiteten sich wie Flügel aus.
Angsterfüllt stand die alte Signora Lucia einfach nur da. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie das Geschehen. Sie hatte Geschichten über sie gehört, doch niemals im Leben daran gedacht, dass diese Wesen sie heimsuchen würden. Cherubim, die Sendboten Gottes drangen in ihr Haus ein, durchwühlten alle Räume, rissen Schubladen aus den Schränken, zerschlugen Krüge und Fässer.
Dann stießen sie auf den Speicher.
»Hier muss es sein, Magister«, rief einer von ihnen und ein fünfter Mann betrat das Haus. Lucia war unfähig sich zu rühren, doch ihre Augen folgten dem Mann mit dem kalten Gesicht. Ohne sie eines Blickes zu würdigen stieg der Eindringling hinauf in den Speicher. Er ging hin und her, besah die Gemälde, Skizzen und Papiere. Vor Melissas Bild als Maria Magdalena mit den drei Kindern blieb er stehen, betrachtete es eingehend.
»Ich hatte Recht«, flüsterte er, dann hob er das Bild hoch über seinen Kopf, um es im gleichen Augenblick auf dem Boden zu zerschlagen.
»Verbrennt alles«, befahl er den vier anderen. »Das ganze Haus. Es ist eine Brutstätte Satans. Gott will, dass wir sie ausmerzen und den reinigenden Flammen des Feuers übergeben, damit sie für immer von der Erde getilgt wird.«
Er ging zurück zur Stiege, hielt dabei einen Rosenkranz in der Hand. Als er die alte Lucia erreicht hatte, blieb er stehen und lächelte sie kalt an. Wie gebannt starrte die Alte auf den Fremden, der ihr einen Rosenkranz vors Gesicht hielt.
»Der Rosenkranz ist ein mächtiger Schild gegen den höllischen Feind; er vernichtet das Laster, verhindert die Sünde und rottet die Irrlehre aus«, sagte er leise, aber eindringlich. »Verstehst du, Weib, was ich meine?«
Lucia nickte mit offenem Mund.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte der Fremde dann. Sie nickte und versuchte etwas zu sagen.
»Nun, ich höre?«
»Ein Cherub, ein Sendbote Gottes«, hauchte sie am ganzen Leib zitternd. Jetzt hörte sie das Lodern der Flammen über ihr auf dem Speicherboden. Dann stürmten die vier anderen Männer die Treppe hinunter, vergossen dabei Öl und entzündeten es mit brennenden Fackeln, die sie auf einmal in den Händen hielten. Glühende Kohlen, ging es Lucia durch den Kopf.
»Die Seele, welche in rechter Weise durch meinen Rosenkranz ihre Zuflucht zu mir nimmt, geht nicht verloren«, sagte der Mann mit den kalten Augen dann, wickelte den Rosenkranz um ihre zitternden Hände. Sie sah das Feuer, wie es sich die Treppe herunter fraß, gierig alles verschlang, was sich ihm in dem Weg stellte wie ein hungriger Höllenschlund. Die Flammen leuchteten gleißend hell. Jetzt sah Lucia die Blitze aus dem Feuer schießen, direkt auf sie zu. Sie sah nicht mehr, wie die Männer ihre Pistolen wegsteckten und der Mann mit den kalten Augen den Rosenkranz wieder an sich nahm.
Das schmale Haus in einer Gasse im Hafenviertel von Neapel brannte lichterloh. Unter den Menschen brach Panik aus, als der Brand auf die benachbarten Häuser übergriff. Viele Anwohner flüchteten, versuchten nur ihr eigenes, nacktes Leben zu retten. Andere bildeten eine Menschenkette, versuchten den Brand zu löschen. Nur plötzlich einsetzender Starkregen verhinderte eine Katastrophe.
Valletta, Malta, 4. August a. d. 1626
Nachdem Matthias und Pater Theophil die Kathedrale San Giovanni verlassen hatten, öffnete sich eine Tür zum Beichtstuhl, der vor dem Gemälde der Enthauptung des Heiligen
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