Das Geheimnis der schönen Catherine
immer reges Leben. Aus dem Augenwinkel sah Hugo eine schnelle Bewegung; eine Ratte huschte wie ein Schatten von Loch zu Loch. Er unterdrückte ein Schaudern. Vor den meisten Dingen hatte er keine Angst mehr, aber Ratten hasste er mit einer Abscheu, die er nie ganz hatte überwinden können. Noch immer trug er die Narben von den Bissen, die sie ihm in der Kindheit zugefügt hatten. Bald hatte er eins der großen Lagerhäuser erreicht und betrat es. Er nickte dem Mann zu, der den Eingang bewachte, und eilte die Treppe hinauf. Oben klopfte er und betrat das Kontor. Ein großer stämmiger Mann erhob sich von seinem Sessel, um ihn zu begrüßen. »Mr. Devenish! Sir, wie schön, Sie zu sehen, setzen Sie sich doch! Warum haben Sie denn nicht nach mir schicken lassen, Sir? Sie wissen doch, dass ich …« Hugo schüttelte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. »Patchett. Ich bin immer noch Seemann. Gelegentlich spüre ich gern einmal wieder Planken unter den Füßen und atme Seeluft.« Er grinste. »Nicht, dass ich diese Luft als frische Brise bezeichnen möchte!« Der ältere Mann lachte. »Seeluft, Sir? Wohl eher schmutziger Stadtgestank, Sir.« Hugo unterbrach ihn. »Hören Sie doch bitte mit diesem ewigen ›Sir‹ auf, Patchett. Das ist nur nötig, wenn wir in irgendwelchen Geschäftsbesprechungen sitzen. Hier sind wir unter uns, nur Sie und ich, Patchett. Und auch wenn mir heute eine Handelslinie gehört, werde ich nie vergessen, dass Sie mir das Leben gerettet haben, als ich noch ein kleiner Junge war. Erinnern Sie sich noch an diesen teuflischen Kapitän?« Captain Patchett hob abwehrend die Hand. »Ach, hören Sie mir bloß damit auf. Sie brauchen mir nicht zu danken – das haben Sie mittlerweile mehr als wettgemacht.
Weswegen sind Sie denn nun hier? Wenn es um die letzte Lieferung geht …« Hugo schüttelte den Kopf. »Ich bin aus anderen Gründen hier. Das Geschäft läuft hervorragend. Nein, ich bin … ich bin aus persönlichen Gründen hier.« Captain Patchett hob die Augenbrauen. »Aus persönlichen Gründen! So, so. Setzen Sie sich doch, mein Junge, und erzählen Sie mir, was Sie hergetrieben hat. Brauchen Sie was gegen die Kälte?« Ohne eine Antwort abzuwarten, goss er Rum in zwei Bechergläser und reichte Hugo eins davon. »Auf die Gesundheit und erfolgreiche Reisen!« Hugo prostete ihm zu und hob das Glas. Captain Patchett lehnte sich erwartungsvoll vor. »Nun, mein Junge, was gibt’s?«
»Es geht um eine Frau …« Triumphierend hieb Captain Patchett mit der Faust auf die Tischplatte. »Eine Frau! Na, das wird aber auch Zeit, mein Junge! Seit Ewigkeiten warte ich darauf, dass Sie kommen und mir sagen, dass Sie endlich heiraten wollen …« Hugo unterbrach ihn. »Es geht um die Zukünftige meines Neffen, nicht um meine eigene.«
»Oh.« Captain Patchett lehnte sich mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zurück. »Ihr Neffe also. Na gut, dann fangen Sie mal an.«
»Die Frau ist mir ein Rätsel.« Captain Patchett rümpfte die Nase und goss Rum nach. »Das sind sie alle, mein Junge. Alle.«
»Sie ist von irgendwoher nach England gekommen …«
»Ah, eine Ausländerin!«
»Nein, eine Engländerin. Vermutlich kam sie mit ihrer Kammerzofe. Sie ist jung, ganz hübsch anzusehen, dunkelhaarig, blaue Augen …«
»Die Kammerzofe?« Captain Patchett grinste.
»Nein, die Zukünftige meines Neffen. Ihre Kammerzofe ist eine Frau in den Dreißigern, ansehnlich, aber nichts Besonderes. Die junge Frau ist zweifellos eine Dame, aber eine äußerst ungewöhnliche. Sie hat etwas an sich …« Hugo hielt inne, weil er nicht wusste, wie er seinem alten Freund Miss Singleton am besten beschreiben sollte. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, aber sie ist irgendwie anders als die anderen jungen Damen.« Captain Patchett sah ihn verschmitzt an. »Und Sie sagen, sie ist die Zukünftige Ihres Neffen.« Hugo nickte. »Genau. Angeblich ist sie eine reiche Erbin …« Captain Patchett hob die Augenbrauen. »… aber das bezweifle ich. Gerüchten zufolge soll sie eine Diamantenmine besitzen, aber …« Der alte Seemann legte die Stirn in Falten. »Wenn sie reich ist, muss das nachprüfbar sein. Reichtum kann man nicht lang geheim halten.« Hugo nickte. »Das weiß ich. Aber ich glaube nicht, dass sie wirklich vermögend ist.«
»Eine Hochstaplerin also? Dann ist sie hinter dem Titel her?« Hugo wiegte bedächtig den Kopf. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Meiner Meinung nach ermutigt sie Thomas nicht
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