Das Geheimnis der schönen Catherine
die Hälfte ihrer Aufgaben erledigt und wäre bereits halb frei. Die drei anderen leeren Fächer waren sehr viel größer und dementsprechend schwieriger zu füllen, aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Alles zu seiner Zeit, sagte sie sich.
Hugo stand im Schatten und ärgerte sich über sich selbst. Von den Klubs in St. James’s hatte er es nicht weit nach Hause. Hier in dieser Gegend hatte er überhaupt nichts zu suchen. Kein gutes Zeichen, sagte er sich. Er war kein junger Mann mehr. Sich in seinem Alter wie ein törichter Grünschnabel zu benehmen war mehr als peinlich. Schon seit ewigen Zeiten hatte er sich nicht mehr vor dem Haus einer jungen Dame herumgedrückt, und das letzte Mal hatte mit einer demütigenden Niederlage geendet. Bei dem Gedanken daran lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Zweiundzwanzig war er gewesen und ein romantischer Jüngling, als er nach gut zwölf Jahren auf See in die Heimat zurückgekehrt war. Und auch wenn er sich mit Barmädchen, Hafenhuren und Seemannsbräuten auskannte, eine echte Dame hatte er noch nie kennen gelernt. Er war heimgekehrt mit Taschen voller Geld, zum ersten Mal in seinem Leben – das Schiff, das er vom Erbe seiner Mutter gekauft hatte, lief mit reicher Ladung ein.
Seine Familie wollte ihn zwar zunächst nicht willkommen heißen, aber andere Mitglieder der feinen Gesellschaft hatten weniger Probleme damit, den legitimen Spross eines Lords und einer Kaufmannstochter in ihrer Mitte zu akzeptieren, solange er nur Geld genug hatte. Hugo seufzte. Er war wirklich naiv gewesen. Als junger Mann hatte er die ganze Welt bereist, hatte Grausamkeit, Korruption und Laster in fast jedem Hafen der Welt erlebt, war durch die harte Schule der Seemänner gegangen. Und er hatte nur überlebt, weil er so hart, so gnadenlos, so rau geworden war wie die Welt, in der er leben musste. Hugo Devenish war kein leichtes Opfer, kein Gimpel, den ein Gauner, eine Hure oder ein Taschendieb ungestraft rupfen durfte.
Aber was auch immer er über die Schlechtigkeit der Welt wusste, er hatte es in dem Moment vergessen, als er sie kennen lernte. Sie, eine echte englische Dame. Eine ehrbare verheiratete Dame der Gesellschaft, die sehr schnell den weichen Kern unter seiner rauen Schale erahnt hatte, den Jungen, der sich nach Zärtlichkeit sehnte. Gegen ihre Vornehmheit, Zärtlichkeit und liebevollen Worte war er wehrlos gewesen. Und so wunderschön war sie gewesen, zart, elegant und weich. Nie hatte er etwas so Weiches berührt wie ihre Hände und ihre blasse, glatte Haut. Sie war ein Wunder, etwas, das er vorher noch nie gesehen hatte – rein, kostbar, verletzlich. Und er hatte ihren Geschichten über ihren grausamen Gatten Glauben geschenkt und gemeint, sie vor diesem Mann retten zu müssen. Wie dumm war er gewesen! Ungläubig und voll Hass dachte Hugo an diese Zeit zurück. Für sie war alles nur ein Spiel gewesen, ein Spiel, das sie öfter mit unbedarften jungen Männern spielte. Hinter der zarten Eleganz ihres Äußeren verbarg sich die Seele einer Harpyie – sie hatte ihn zu sich bestellt, doch statt ihrer wartete am vereinbarten Treffpunkt ihr Gatte mit einem Stallburschen auf ihn. Man hielt ihn fest und schlug ihn mit der Pferdepeitsche, bis sein Rücken nur noch eine einzige klaffende Wunde war. Und sie? Sie hatte in aller Seelenruhe dabeigestanden, ihn verspottet und sich über ihn lustig gemacht. Und hinterher hatte ihr Mann sie fröhlich auf die Arme gehoben und war dann vermutlich mit ihr ins Bett gegangen, während Hugo blutend im Staub lag. Damals hatte Hugo allen Glauben an das Gute im Menschen verloren. Es war das letzte Mal gewesen, dass er einer der ach-so-respektablen Damen des ton näher gekommen war. Bis zum heutigen Tag. Allerdings ist die jetzige Situation ganz anders, dachte er, während er zum Haus der Singletons hinüberblickte. Er war nicht in die junge Dame verliebt. Er versuchte lediglich, die Wahrheit über sie herauszubekommen. Und das war ein großer Unterschied. Am Abend hatte er mehrere Klubs besucht, vorgeblich, um Karten zu spielen und in männlicher Gesellschaft zu trinken. In Wahrheit hatte er diskret versucht, so viel wie möglich über Rose Singletons mysteriösen verblichenen Bruder herauszubekommen, der einigen widersprüchlichen Aussagen nach der Vater von Catherine Singleton sein sollte. Er hatte viel gehört, aber wenig erfahren. Zu widersprüchlich waren die Geschichten, die man ihm erzählte. James Singleton, so meinten manche, sei vor
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