Das Geheimnis der schönen Catherine
nur eine Finte: Als Hugo in diese Richtung sprang, um ihn zu packen, wich der kleine Mann aus und rollte unter Hugos Füßen durch. Dieses unerwartete Manöver brachte Hugo fast aus dem Gleichgewicht. »Nein, nicht!«
schrie der Chinese plötzlich mit merkwürdig heller Stimme. Es gab einen dumpfen Schlag, und eine Keule oder ein Stück Holz ging auf Hugos Hinterkopf nieder. Benebelt taumelte Hugo vorwärts. Merkwürdig war, dass der Chinese regungslos stehen blieb. Er starrte Hugo an – fast als wäre er um ihn besorgt. Hugo gab sich bewusst taumeliger, als er sich fühlte, und sprang dann vor, packte den Chinesen und warf ihn zu Boden. Wieder stieg ihm der unverkennbare Duft von Sandelholz und Räucherwerk in die Nase. »Aiee-ya!« Derselbe Ruf.
Der Orientale schlug mit den Beinen um sich, erwischte Hugo am Knöchel und brachte ihn zu Fall. Bevor Hugo ihn erneut angreifen konnte, war er schon wieder auf den Beinen. »Aiee-ya!« Hugo bekam ihn am Genick zu fassen. »Jetzt hab ich dich, Freundchen. Gib auf!« Der Mann schien mit einem Mal in sich zusammenzusinken. Er ließ sich von Hugo an sich ziehen, drehte sich dann urplötzlich um und schlug Hugo in den Unterleib. Hugo brach zusammen, wie vom Blitz getroffen. Schmerz und Übelkeit verdrängten alles andere, und eine Weile lag er keuchend auf dem Kopfsteinpflaster. Erst allmählich wurde ihm klar, dass der Chinese spurlos verschwunden war. Ein Pferd entfernte sich im Galopp. »Zum Teufel!« Er stöhnte und versuchte seinen misshandelten Körper wieder auf die Beine zu bringen. Sein Kopf schmerzte vom Brandy und von dem Schlag, den ihm der Stalljunge mit seinem Knüppel verpasst hatte. Sein Unterleib tat höllisch weh. Am schlimmsten aber war sein Selbstwertgefühl getroffen – er war von einem Jungen und einem dünnen Chinesen besiegt worden. Wieder stöhnte er. Er musste hier weg, bevor jemand von den Dienstboten kam, um die Ursache für den Krach ausfindig zu machen. Auf keinen Fall wollte er in einem derart würdelosen Zustand auf dem Hinterhof einer ehrbaren Dame gefunden werden. Er musste sofort hier weg. Eigentlich hätte er die Damen Singleton über den Einbruchsversuch des geheimnisvollen Chinesen informieren müssen. Aber dann hätte er eine ganze Reihe von Fragen beantworten müssen. Peinliche Fragen. Denn was hatte er nachts vor ihrem Haus zu suchen? Außerdem fiele es ihm schwer, Catherine Singleton einzugestehen, dass er schon wieder von einem Mann übertölpelt worden war, der nur halb so groß war wie er selbst. Der Dieb war verschwunden. Heute Nacht würde er nicht mehr wiederkommen. Morgen werde ich den Damen Singleton meine Aufwartung machen und sie über die Gefahr aufklären, in der sie schweben, beschloss Hugo. Aber erst brauchte er ein Glas Brandy, ein wärmendes Bad und viel, viel Schlaf. »Haben Sie Maggie gesehen?« fragte Catherine und steckte den Kopf in die Küche. »Ich habe schon mehrmals nach ihr geläutet, aber sie kommt einfach nicht.«
»Nein, Miss Catherine. Ich weiß nicht, wo Bone steckt, und es geht mich auch nichts an«, erwiderte die Köchin sehr förmlich. Sie war nicht angetan von Catherines Angewohnheit, Maggie mit Vornamen anzusprechen. Außerdem schien es ihr nicht zu passen, dass Catherine ins Dienstbotenreich im Untergeschoss eingedrungen war. Catherine hatte für derartigen Schnickschnack wenig übrig, verbarg ihren Ärger jedoch. Maggie war weit mehr als nur ihre Kammerzofe. Natürlich hatte die Köchin keine Ahnung, unter welchen Umständen Maggie und sie sich kennen gelernt hatten. Die Umstände waren so außergewöhnlich gewesen, dass es absurd gewesen wäre, auf der üblichen strikten Unterscheidung zwischen Dienerschaft und Herrschaft zu bestehen. Aber in London war es üblich, dass Dienstboten mit ihrem Nachnamen gerufen wurden. Und Catherine bemühte sich stets, sich an die herrschenden lokalen Gebräuche anzupassen, so absurd sie auch sein mochten. »Und Sie, Higgins?« fragte sie die Magd. »Wissen Sie, wo meine Kammerzofe ist?« Die Küchenmagd sah ängstlich zur Tür, die nach draußen führte. »Ich weiß nicht, Miss. Ich, äh, ich glaube, dass sie für eine Minute rausgegangen ist, um … um etwas zu besorgen. Soll ich sie holen gehen?« Catherine fing den grimmigen Blick auf, den die Köchin der Magd zuwarf. Das Mädchen errötete und senkte den Blick. Sie wusste irgendetwas. Ein Geheimnis lag in der Luft. »Nun«, sagte Catherine langsam, »ich bin sicher, Maggie wird zu mir kommen, sobald sie
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