Das Geheimnis der schönen Catherine
schwerhörig. »Was, wer ist tot? Bei dem furchtbaren Gejaule da unten versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr«, rief sie. »Was ist mit dem Kerl mit den Bronzestatuen passiert?«
»Bronzino – so heißt er, meine Liebe«, schrie Lady Horton zurück, gerade als der Tenor verstummte. Ihre Worte waren im ganzen Zuschauerraum deutlich zu hören. Im Publikum wurde Gelächter laut. Lady Gosper, erleichtert, dass die Musik für einen Moment ausgesetzt hatte, erklärte abfällig: »Oh, ein Italiener.
Immerhin, sie verstehen etwas von Kunst, die Italiener. Ich war mal dort – überall Gemälde und Statuen. Erstaunliches Volk, diese Italiener.« Sie warf einen misstrauischen Blick auf den Tenor. »Der ist wahrscheinlich auch einer.«
»Ja, meine Liebe. Und er singt vorzüglich, findest du nicht?« meinte Pearl Hamnet. Lady Gosper spitzte die Lippen und lauschte einen Moment, als der Tenor mit einer neuen Arie begann. »Seine Strumpfhosen sind viel zu eng, das finde ich.« Kichernd wandte sich Catherine wieder dem Schauspiel auf der Bühne zu. Die Musik war wunderschön, die Kostüme opulent. Sie fühlte sich glücklich. Sie war entspannt und mit sich und der Welt im Einklang. Schon vier Fächer ihrer Truhe waren gefüllt; jetzt fehlten nur noch zwei. Die Dienerin der Primadonna verkleidete ihre Herrin als Jungen. Catherine sah kritisch zu. Die Maskerade war nicht sehr überzeugend, aber die arme Seele war in verzweifelter Not. Catherine hoffte, dass der Held blind war.
Hinter ihr erhob sich lautes Getuschel. Offenbar war eine weitere Person zu ihnen gestoßen. Viele der Logen füllten sich erst jetzt, obwohl die Oper schon weit fortgeschritten war. Pure Verschwendung, dachte Catherine. Und Ignoranz. Denn die neu Eingetroffenen störten die Zuhörer mit ihrem Lärm und Geschwätz. Catherine schwelgte in der Musik und wünschte, das Publikum möge leiser sein. Aber offenbar war die Musik nicht der Grund, warum die Leute hierher kamen. Das Opernhaus war lediglich ein Ort, an dem man sich sehen lassen musste, und die Höhepunkte des Abends waren die Pausen zwischen den Szenen, wenn sich alle wechselseitig in ihren Logen besuchten. »Miss Singleton, Sie sehen bleich aus«, sagte eine tiefe Stimme neben ihr. Aufgebracht drehte sich Catherine zur Seite.
»Schsch! Ich bin nicht bleich. Guten Abend, Mr. Devenish.« Sie wandte sich wieder dem Geschehen auf der Bühne zu. »Sie sehen wirklich krank aus«, erklärte er. »Das muss an der Luft hier drin liegen.
Ich glaube, ich sollte Sie kurz nach draußen bringen. Miss Singleton, Lady Horton, was empfehlen Sie?«
»Oh, das ist eine gute Idee. Bringen Sie das Mädchen nach draußen«, stimmte die Dame ihm zu.
»Ich möchte nicht, dass sie hier drin ohnmächtig wird.« Catherine fühlte, wie eine warme Hand sie fest am Unterarm packte. Verärgert schüttelte sie sie ab. Sie war kein bisschen krank. Und sie wollte nicht weggehen, sondern die Oper sehen. Entschlossen nahm Hugo ihre Hand. »Ihnen ist schwindlig, das ist tatsächlich nicht zu übersehen. Erlauben Sie mir, Ihnen auf die Füße zu helfen, Miss Singleton.«
Wütend drehte sich Catherine zu ihm um, um ihm klarzumachen, dass das nicht nötig sei, aber als sie das tat, sah sie seinen Gesichtsausdruck. Seine Augen blitzten, seine Lippen waren fest aufeinander gepresst. Er sah furchtbar zornig aus. Wenn sie nicht mitkam und ihn anhörte, würde er sich bestimmt hier in aller Öffentlichkeit mit ihr streiten. Und das wollte sie dann doch vermeiden. Widerwillig stand sie auf und erlaubte ihm, sie fürsorglich aus der Loge zu geleiten. »Ich weiß nicht, warum Sie …«, meinte sie. Mit einem bösen Blick brachte er sie zum Schweigen. Wortlos geleitete er sie nach draußen und führte sie einen Gang entlang, eine Treppe hinauf in einen anderen Gang, bis sie ein kleines Zimmer erreicht hatten, das lediglich mit einer verblichenen Chaiselongue und einem Tischchen möbliert war. »Setzen Sie sich«, befahl er ihr grimmig. Catherine rollte mit den Augen und tat, wie er geheißen hatte. Wenigstens bekommt dieses Streitgespräch niemand mit, dachte sie. Er beugte sich vor. »Nun? Wollen Sie es mir vielleicht erklären?« Catherine starrte ihn empört an. »Sie sind in Lady Hortons Loge geplatzt, haben mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mitten in der schönsten Oper aus dem Zuschauerraum geholt – ich bin noch nie zuvor in einer Oper gewesen und war so glücklich! Und dann zerren Sie mich ohne Anstandsdame durch
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