Das Geheimnis der toten Voegel
die ganze Zeit an dich. Heute Morgen habe ich die Schmutzwäsche in den Kühlschrank gestopft, habe das Waschmittel in den Kaffeefilter geschüttet und dann den ganzen Vormittag verträumt und mir vorgestellt, was ich mit dir tun würde, wenn du hier wärst. Ich glaube, ich bin dabei, mich tödlich zu verlieben. Sag mir etwas Nettes, ich brauche das. Ich sehne mich nach dir. Antworte, sonst sterbe ich!«
»So schlimm muss es ja nicht gleich sein. Wo bist du?«
»Wohne bei einem Kumpel, er schläft grade, deshalb versuche ich, etwas leise zu sein.«
»Bei einem Kumpel? Und wo? Bist du noch auf Gotland?«
»Ja, ich bin in Kappelshamn. Kannst du nicht herkommen? Mir ist langweilig.«
»Dann hast du wohl die neuesten Nachrichten noch nicht gehört, was? Ich habe den Fernseher an. Das kann doch nicht wahr sein.«
»Nein, was ist denn?« Er merkte, wie es in seinen Ohren zu rauschen begann und eine glühende Röte sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Antworte, sag es nur gleich. Du weißt, dass sie hinter mir her sind, oder?
»Die Hölle ist los. Aller Verkehr von und nach Gotland ist eingestellt worden. Die Infektion ist nicht mehr unter Kontrolle. Vierundzwanzig neue Fälle, wahrscheinlich alle von einer Frau in der Jungmansgatan in Visby angesteckt. Die wiederum haben in den letzten Tagen jede Menge Leute getroffen, die wiederum andere Leute getroffen haben. Die Eltern sind in das Camp in Klintehamn eingebrochen und haben ihr Kinder geholt. Alles ein einziges Chaos. Die Politikertagung in Almedalen wird abgebrochen werden, und die Politiker werden morgen früh aufs Festland ausgeflogen. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.«
»Können wir uns sehen?« Das war nur ein Versuch. Er hatte keine großen Hoffnungen, aber manchmal hatte man doch mehr Glück, als man dachte.
»Um Mitternacht im Industriehafen von Kappelshamn.«
»Um Mitternacht.«
Danach war er fast glücklich und etwas weniger mutlos. Es könnte eine nette Unterbrechung der Einsamkeit sein, die fing nämlich an, ihm auf die Nerven zu gehen.
25
Jonatan Eriksson nahm die Maske ab und sackte über dem Schreibtisch zusammen. Er weinte, wie er es nicht mehr getan hatte, seit er als Kind gemobbt und gezwungen worden war, vor den großen Jungs aus der Neunten die Unterhosen runterzuziehen. Das Gefühl der Machtlosigkeit war jetzt genauso groß wie damals, und er wünschte sich weit weg. Der Gedanke, das alles abwerfen, einfach in einem Nichts verschwinden zu können, hatte nichts Erschreckendes mehr. Was gab es noch, wofür man leben sollte? Malte natürlich. Aber ansonsten … gar nichts.
Sebastians Vater zu treffen und ihm sagen zu müssen, dass der Junge tot war, und dann den ganzen Prozess in seinen Augen widergespiegelt zu sehen – Misstrauen, Wut und die schreckliche Trauer –, das hatte die Trauer in ihm selbst mit voller Kraft ausbrechen lassen. Aber in dem Moment war es nicht um ihn gegangen, sondern um die Angehörigen. Und das war nur der Anfang. Vor einer knappen Stunde hatte er mit Morgan und den Leuten aus dem Krisenstab zusammengesessen. Der Leiter der Sozialverwaltung war am Telefon dabei, und gemeinsam hatten sie den unerhörten Beschluss gefasst, die Grenzen von Gotland mit Hilfe von Polizei und Militär abzuriegeln. Die Küstenwache würde zusätzliche Unterstützung bekommen. Die Häfen in Visby, Slite, Kappelshamn, Klintehamn und Ronehamn standen bereits unter Bewachung, und der Flughafen Visby war geschlossen. Der Beschluss war im nationalen Seuchenausschuss getroffen worden. Die Regierung war informiert.
»Welche Befugnisse haben Polizei und Militär, um jemanden aufzuhalten, der sich dem Verbot widersetzt?«, hatte er Åsa Gahnström gefragt.
»Alle Befugnisse«, hatte sie geantwortet, und ihre Stimme war sehr dünn gewesen. »Wir sind gescheitert. Jetzt im Nachhinein muss man sagen, dass wir Malin Bergs Kontakte besser hätten verfolgen sollen. Zu unserer Verteidigung kann man nur sagen, dass wir nicht die Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen haben, die wir gefordert hatten. Wir haben keinerlei personelle Hilfe aus anderen Landesteilen erhalten. Nicht einen einzigen Arzt, keine Krankenschwester, keine Pfleger. Keine antiviralen Medikamente, nur ein paar Beatmungsgeräte, zu wenig Atemschutzmasken, die Lieferungen von Antibiotika sind verspätet. Wir brauchen große Mengen an Material, nicht in einer Woche oder in vierzehn Tagen. Jetzt! Und die Putzfrauen weigern sich, hierher zu kommen. Sie wollen nicht mit dem
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