Das Geheimnis der Totenmagd
»Wieso ist er denn bei Euch?«
»Das ist eine schlimme Geschichte. Setzt Euch erst mal.« Florian fegte rasch einige Kleidungsstücke von einem Holzstuhl und bot Anna an, Platz zu nehmen. Mit ernster Miene setzte er sich zu ihr an den kleinen Tisch am Fenster, auf dem sich ein Durcheinander aus Zeichnungen, Kohle-, Rötel- und Kreidestiften sowie eine Korbflasche mit Wein und diverse Lebensmittel befanden. Florian stellte mehrere benutzte Trinkbecher und ein Holzbrett mit einem Brotkanten und einem angebissenen Stück Hartwurst auf die Fensterbank. Dann seufzte er geräuschvoll und stieß schließlich hervor:
»Ruprecht Bacher ist tot. Er wurde erstochen. Man hat seine Leiche vergangenen Freitag im Brunnen auf dem Liebfrauenberg gefunden.«
»Was sagt Ihr da? Bacher wurde ermordet? Das kann doch nicht wahr sein!« Anna war von ihrem Stuhl aufgesprungen und blickte Florian entsetzt an.
»Doch, und womöglich bin ich sogar schuld daran, dass es dazu gekommen ist – weil ich ihm davon erzählt habe.« Er stützte bekümmert den Kopf auf die Hände.
Anna musterte ihn verständnislos. »Das verstehe ich nicht. Wieso seid Ihr schuld daran, und was habt Ihr ihm erzählt?«
»Na, am Donnerstagabend habe ich ihm gesagt, dass Katharina jeden Abend, wenn er seinen Dienst angetreten hat, aus dem Haus geschlichen ist. Und dann hat er mir den Hund gegeben, damit er ihn nicht verrät, und ist ihr heimlich gefolgt. Das wurde ihm wohl zum Verhängnis, am nächsten Morgen hat man ihn gefunden. Und Katharina ist seitdem spurlos verschwunden. Es ist zum Verrücktwerden!« Florian hatte sich ebenfalls erhoben und lief rastlos in der engen Stube auf und ab.
»Überall habe ich nach ihr gesucht«, fuhr er fort. »Es gibt kaum einen Platz oder eine Gasse, die ich nicht durchstreift habe. Inzwischen ist es schon so weit, dass ich ständig glaube, sie irgendwo zu sehen, sie in jeder Frau erkenne, die mir in der Gasse entgegenkommt. Es raubt mir langsam den Verstand. Ich kann und will es einfach nicht glauben, dass sie … dass sie tot ist«, stammelte Florian mit tränenerstickter Stimme und barg schluchzend sein Gesicht in den Händen.
»Nein, das darf nicht sein«, flüsterte Anna und sank wieder auf ihren Stuhl. Und dann sackte sie ohnmächtig in sich zusammen.
*
Anna nippte an dem Wein, den ihr Florian eingeschenkt hatte, und spürte, wie ihre Lebensgeister langsam wieder zurückkehrten. Florian hatte in der Zwischenzeit den Ofen angeheizt, und in dem kleinen Raum war es behaglich warm geworden. Sie erinnerte sich nur noch daran, dass es ihr plötzlich schwarz vor Augen geworden war, und dann war nichts als Leere.
»Wie lange war ich denn ohne Bewusstsein?«, erkundigte sie sich verstört.
»Nicht lange, vielleicht eine halbe Stunde«, erwiderte Florian, der an ihrer Seite saß. »Ich war anfangs ziemlich beunruhigt und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Ich habe erst einmal eine Decke über Euch gebreitet und eingeschürt, und dann ist mir die Idee mit dem Ammoniak gekommen. Ihr müsst wissen, meine Meisterin wird auch manchmal ohnmächtig, weil sie so bleich und blutarm ist. Dann holt der Meister immer die Ammoniakflasche und hält sie ihr unter die Nase. Von dem scharfen, beißenden Geruch kommt sie dann wieder zu sich. Wir verwenden Ammoniak in der Werkstatt zum Mischen der Tempera, und zum Glück hatte ich mir letztens etwas davon abgefüllt.« Er wies auf ein kleines Fläschchen, das auf dem Tisch stand. »Und es hat ja auch gewirkt«, setzte er lächelnd hinzu.
»Ich danke Euch«, murmelte Anna mit schwacher Stimme. Sie war befangen.
»Trinkt von dem Wein, das wird Euch guttun«, forderte er sie auf und schenkte sich selbst etwas aus der Korbflasche ein. Anna nahm einen kräftigen Schluck aus dem irdenen Becher.
»Ein edler Tropfen«, bekundete sie angetan.
»Das will ich wohl meinen«, bemerkte Florian mit einigem Stolz. »Das ist ein roter Frankenwein, mein Meister hat mir gestern eine Flasche davon mitgegeben. Er hat von seinem Schwager Albrecht Dürer aus Nürnberg eine ganze Kiste zum Geburtstag geschickt bekommen.«
»Albrecht Dürer ist der Schwager Eures Meisters?«
»Ja, Meister Caldenbach war einer seiner Meisterschüler.«
»Dann habt Ihr ja einen vorzüglichen Lehrmeister«, konstatierte Anna bewundernd. Sie ließ ihre Blicke über die Zeichnungen und Gemälde schweifen, die einen Großteil der Wände bedeckten. Plötzlich richtete sie sich in ihrem Stuhl auf und wies auf mehrere,
Weitere Kostenlose Bücher