Das Geheimnis der Totenmagd
Kilian aufmunternd in die Seite, so dass er erneut zusammenzuckte.
»Auf, erzählt schon. Warum hält man Euch hier fest?«, insistierte sie nachdrücklich.
»Seit Mechthilds Tod stehe ich hier gewissermaßen unter Hausarrest. Ich kann mich zwar im Haus frei bewegen, darf es aber nicht verlassen. Der Henker und seine Frau achten peinlich darauf, dass die Türen immer verschlossen sind. Nachts verriegeln sie sogar die Fensterläden. Man scheint mir immer noch nicht ganz zu trauen«, erwiderte er leise. »In der Nacht, in der Mechthild gestorben ist, hatte ich nämlich einen Zusammenbruch. Es war alles so entsetzlich …« Er fing wieder an zu schluchzen. »Ihre schreckensgeweiteten Augen, die Todesangst, die panischen Schreie … Zum Schluss kam nur noch ein leises Wimmern, und sie hat wie ein kleines Kind nach ihrer Mutter gefleht. Mama, hilf mir bitte! waren ihre letzten Worte. Ich konnte es kaum ertragen. Wir standen uns doch so nahe. Jedenfalls muss ich vor lauter Verzweiflung ohnmächtig geworden sein. Als Mechthild tot war, bin ich wieder zu mir gekommen. Puch und der Meister haben mich dann nach Hause begleitet. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und immer wieder Mechthild vor mir gesehen, wie ihr das Blut in pulsierenden Schüben aus der Halsschlagader schoss. Als endlich der Morgen graute, war mir bewusst, was für einen verhängnisvollen Irrweg wir alle eingeschlagen hatten. Ich zog in Erwägung, meinem Leben ein schnelles Ende zu bereiten, indem ich mich an meinem Gürtel am Dachbalken erhängte. Doch eine innere Stimme ermahnte mich, es nicht zu tun. Noch ganz benommen schnürte ich mein Bündel, sprach der Familie Stockarn mein Beileid aus, nachdem Mechthild im Beinhaus des Friedhofs tot aufgefunden worden war, und sattelte mein Pferd, um auf dem schnellsten Weg zu meinem Elternhaus, der Burg Hattstein im Taunusgebirge, aufzubrechen. Dort wähnte ich mich sicher vor den Brüdern des Todes, und außerdem fühlte ich mit einem Mal eine unbändige Sehnsucht nach meinen Eltern und Geschwistern, die ich schon viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Als ich gerade draußen vor dem Eingangsportal auf mein Pferd steigen wollte, packte mich plötzlich jemand am Arm, und zu meinem Entsetzen vernahm ich die Stimme des alten Puch, des Leibdieners des Meisters: ›Wohin des Weges, Bruder Kilian?‹, fragte er hämisch. Dann fackelte er nicht lange und verpasste mir einen heftigen Kinnhaken, der mich außer Gefecht setzte. Ich erwachte im Hause des Henkers und musste vor das große Strafgericht treten. Man hatte mich wie bei einem peinlichen Verhör an Händen und Füßen gefesselt, und Reinfried peitschte mir wutentbrannt den entblößten Rücken mit der neunschwänzigen Katze. So lange, bis ich endlich den Grund meiner geplanten Flucht gestand. Was ich ihm sagte, entsprach indessen nur zum Teil der Wahrheit. Aber der Meister glaubte mir und gab sich schließlich damit zufrieden …«
»Entschuldigt, aber was habt Ihr ihm denn für einen Grund genannt?«, unterbrach ihn Katharina.
»Dass ich den Tod der Frau, die ich liebte, nicht verkraften konnte«, erwiderte Kilian mit belegter Stimme und senkte niedergeschlagen den Kopf. »Ich habe ihn bis heute nicht verkraftet.«
»Und was waren die anderen Ereignisse, die Euch an den Lehren der Bruderschaft zweifeln ließen?«
»Es gab mehrere Vorkommnisse, die die ersten Zweifel in mir säten. Das begann schon bei den Geißlern: Einerseits war es Männern und Frauen strengstens verboten, geschlechtlichen Kontakt zu haben, dennoch kam es immer wieder zu abscheulicher Unzucht, und es befremdete mich, dass sich auch der Meister dieser Lüsternheit ergab. Und dann die toten Frauen, die man nach solchen Gelagen mit Würgemalen fand. Man hat sie nur notdürftig bestattet, und dann wurde nicht mehr über sie gesprochen. Einmal beobachtete ich, wie der Meister mit einer Frau kopulierte und sie dabei würgte. Als ich ihn danach fragte, erwiderte er nur, er tue dies, weil er nur so den läufigen Metzen die Geilheit austreiben könne. Dabei bekamen seine Augen jenen eigentümlichen Ausdruck, den ich seither immer wieder bei ihm gesehen habe. Ich erschrak bis in mein Innerstes. Er schien wie berauscht zu sein von seinem Allmachtsgefühl.«
Er sinnierte eine Weile und fuhr dann fort: »Ich war damals einfach noch so unendlich verblendet und zu sehr dem Wahn verfallen, das Leben sei ohnehin nur wertloser Tand. Außerdem war ich Reinfried, wie die meisten seiner Anhänger, in
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