Das Geheimnis der Totenmagd
fahrlässig«, murmelte Euler unbehaglich. »Ehrlich gesagt kann ich mir eine solche Verantwortungslosigkeit bei dem jungen Stefenelli gar nicht vorstellen. Ich kenne ihn von seinem Studium her nur als absolut gewissenhaft. Aber …«, setzte er an und hielt dann plötzlich inne. Anna und der Dekan der Philosophischen Fakultät starrten ihn erwartungsvoll an, doch in dem Dekanatszimmer herrschte eine bedrückende Stille.
»Das mit der Abschlussurkunde kann nicht stimmen«, entrang sich Euler nach einer Weile. »Denn eines kann ich mit Gewissheit sagen: Leonhard Stefenelli hat viele Jahre an unserer Fakultät studiert und hervorragende Leistungen erbracht. Aber er hat bis heute sein Studium nicht abgeschlossen. Genauer gesagt: Ich habe ihn seit dem Ausbruch der Pest im Sommer 1507 nicht mehr in unserem Kollegium gesehen«, erklärte er kurzatmig und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Das Gleiche gilt im Übrigen auch für seinen Vater, Professor Stefenelli. Nach den Wirren der Pest hat er sein Amt niedergelegt und ist nach Frankfurt übersiedelt, wo er wohl eine Liegenschaft besitzt. Seit ich zu seinem Nachfolger berufen wurde, hatten wir keinerlei Kontakt mehr.«
Bitter fuhr der Professor fort: »Von seinem Tod habe ich per Zufall gehört. Und ich kann es bis heute nicht begreifen, was ihn dazu bewogen haben mag, hier so mir nichts dir nichts alles aufzugeben. Wo er doch die Fakultät im Jahre 1477 gegründet hat. Das medizinische Kollegium war sein Lebenswerk, er hing mit jeder Faser seines Herzens daran.« Euler hatte feuchte Augen bekommen und schüttelte ratlos den Kopf. »Unbegreiflich«, murmelte er ein ums andere Mal. »Von unserer langjährigen engen Freundschaft ganz zu schweigen. Meine zahlreichen Briefe und Einladungen blieben alle unbeantwortet. Und jetzt soll er auch noch Urkunden gefälscht haben … Was ist nur mit diesem großartigen Mann geschehen?«
»Herr Dekan, ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit, die dazu beigetragen hat, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich muss das leider an den Frankfurter Magistrat weiterleiten, denn Leonhard Stefenelli hat sich sein Amt offenbar durch betrügerische Machenschaften erschlichen. Ich gehe davon aus, dass der Senat Euch zu gegebener Zeit zwecks einer eidesstattlichen Versicherung in der Angelegenheit Stefenelli vorladen wird«, äußerte Anna behutsam. Der zerknirschte Mediziner tat ihr ein wenig leid.
Erschüttert hob Professor Euler die Hände und stieß mit bebender Stimme aus: »Was für eine Schande für unsere Fakultät!«
22
Kilian von Hattstein barg sein Gesicht in den Händen und sank zu Boden. Zusammengekrümmt lag er da, sein hagerer Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Katharina berührte ihn sachte an der Schulter und wollte ihm Trost spenden, doch Kilian zuckte zusammen, als habe ihn eine Nadel gestochen, und stammelte außer sich: »Noli me tangere!«
Katharina kannte zwar die Bedeutung dieser Worte nicht, nahm aber Kilians vehemente Abwehr wahr und vermied weitere Berührungen. Schweigend kauerte sie sich neben ihn.
»Kann ich Euch irgendwie helfen?«, fragte sie nach einer Weile zaghaft.
»Mir kann keiner mehr helfen«, presste Kilian mit tränenerstickter Stimme hervor und stöhnte laut auf. »Die Würfel sind gefallen, es gibt kein Entrinnen …«
»Doch, es gibt immer ein Hintertürchen. Man muss es nur suchen«, widersprach Katharina mit fester Stimme und fügte sanft hinzu: »Sprecht doch offen zu mir. Ihr könnt mir vertrauen.«
Kilian antwortete nicht, sondern stöhnte nur schmerzlich. Da kam Katharina ein Gedanke.
»Ihr … Ihr werdet ebenfalls hier gefangen gehalten. Ich meine, Ihr könnt nicht frei Eurer Wege gehen. Stimmt das?«
»Ja«, flüsterte Kilian und blickte sich verängstigt um.
»Da ist niemand«, suchte ihn Katharina zu beruhigen. »Das hätte ich gehört. Seit ich hier unten stundenlang im Dunkeln sitze, haben sich meine Sinne geschärft. Ich kenne jedes Geräusch und weiß rechtzeitig, wann ich Besuch bekomme. Ein Knarren und ein dumpfer Schlag, als ob eine Luke aufgerissen wird, dann die Schritte auf der Holzstiege, die anschließend durch den Gang hallen, der lang und schmal sein muss.«
»Man kann sich auch anschleichen«, wandte Kilian ein und schien zu zaudern.
»Das wäre mir nicht entgangen. Ich höre sogar, wenn die Ratten über den Boden huschen. Und wenn sie mir zu nahe kommen, werfe ich immer einen meiner Schuhe nach ihnen«, erläuterte Katharina resolut und stieß
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