Das Geheimnis der Totenmagd
hat die Pest überlebt. Kommt mit, und lasset uns ihm huldigen!«
Die Überlebenden der Ortschaft Gückingen folgten ihm zu seiner Hütte und versammelten sich an meinem Krankenlager. Als ich ihnen die verheilten Male zeigte, lobpreisten sie den Herrn, sanken vor mir auf die Knie und ließen sich von mir segnen. Ihre vom Leid verhärteten Herzen öffneten sich, und alle weinten.
»Der Herr hat uns einen Heilsbringer geschickt, Ihr seid ein wahrhaft Berufener«, riefen sie verzückt und benetzten meine Füße mit ihren Tränen.
Ich sprach wie mit Engelszungen, beseelt von einer tiefen, allumfassenden Erhabenheit: »Das Himmelreich auf Erden werde ich Euch bringen. Das ewige Leben wird Euch zuteil werden, wenn Ihr den Tod nicht mehr länger fürchtet, sondern ihn als das begreift, was er ist: die ewige Glückseligkeit! Er erfüllt die Leere in Euren Herzen mit einem Frieden, der Euch alle Anfechtungen und Widerwärtigkeiten, Elend und Schande Eures Daseins für immer vergessen lässt.«
Mit meiner Botschaft brachte ich bei meinen Getreuen alle Dämme der Hoffnungslosigkeit zum Einstürzen.
»Danke, o Herr, für das Wunder, an dem du uns teilhaben lässt«, stammelten die Menschen und gerieten immer mehr in Ekstase. Sie nannten mich ihren Erlöser, ihren Heiland, und baten darum, mich berühren zu dürfen. Strichen ehrfürchtig über mein lang wallendes Haar, das in den Tagen, die ich mit dem Tode gerungen, schlohweiß geworden war.
»Ich werde über die Lande ziehen, um den Menschen das Heil zu verkünden«, erklärte ich. »Wollt Ihr mich als meine Gefolgschaft begleiten?«
»Ja«, gelobten die Menschen in der kleinen Jagdhütte in feierlichem Ernst.«Wir wollen allen, die uns unterwegs begegnen, von dem Wunder berichten, dass der Herrgott an Euch vollbracht hat.«
»So sei es«, entgegnete ich huldvoll und schritt ihnen als ein Auserwählter voran.
8
In den frühen Morgenstunden betrat der Henker Heinrich Sahls Kerkerzelle und bedeutete seinem Schergen, er könne nach Hause gehen und sich noch ein Stündchen hinlegen. Die peinliche Befragung sei erst für die achte Stunde angesetzt, da der Herr Inquisitor lieber bei Tageslicht zu Werke gehe. Dann beugte er sich zu dem Totengräber hinunter, der wieder bei Bewusstsein war und entsetzliche Schmerzen litt, und träufelte ihm ein paar Tropfen des Heilmittels auf die Zunge.
»Ich kann Euch nicht so viel geben, wie nötig wäre, um Eure Schmerzen vollständig zu betäuben. Sonst seid Ihr nachher beim Verhör nicht vernehmungsfähig, und das würde den Inquisitor gewaltig ärgern. Aber Ihr müsst mir jetzt genau zuhören«, redete er mit besänftigender Stimme auf den Gefangenen ein. »Ihr seid ein tapferer Mann, Heinrich Sahl, und ich weiß, Ihr habt Euch entschieden, lieber zu sterben, als Eure Tochter ans Messer zu liefern. Nur seid Ihr vom Sterben noch ein ganzes Stück weit entfernt, und davor liegt erst einmal weitere Qual. Um Euch davor zu bewahren, am Ende doch noch Eure Tochter preiszugeben … O doch, irgendwann gestehen selbst die Tapfersten. Also, um dies zu verhindern, will ich Euch einen Vorschlag unterbreiten.« Der Henker holte unter seinem Wams eine mit Blut gefüllte Schweinsblase hervor.
»Die lege ich Euch jetzt in den Mund«, raunte er mit gedämpfter Stimme. »Haltet sie ruhig auf Eurer Zunge, und lasst Euch nichts anmerken. Später, wenn ich mit der Tortur beginne, zerbeißt Ihr sie und fangt an, mit den Augen zu rollen und wild zu zucken. Ich werde dann dem Dominikaner vorschlagen, die Vernehmung abzubrechen, da Ihr dieselbe mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben würdet. Dann habt Ihr wenigstens bis zur Hinrichtung Eure Ruhe.«
Heinrich Sahl küsste ihm vor Dankbarkeit die Hand und weinte. Der Henker, dessen Tränen schon seit langer Zeit unwiederbringlich versiegt waren, tätschelte Sahls knochige Schulter und entfernte sich.
*
»Nun denn, da Er sich ja gestern nicht darauf besinnen konnte, dass seine Tochter bei seinen Schandtaten dabei war, werden wir heute Morgen sein ach so schwaches Erinnerungsvermögen ein wenig anregen. – Züchtiger, bringe Er das ›Einschnüren‹ zur Anwendung!«
Hubertus Ottenschläger war an jenem Morgen besonders guter Dinge. Er hatte hervorragend geschlafen und war bis in die Haarspitzen durchdrungen vom heiligen Eifer, Gott und die Kirche beim Kampf gegen das Böse zu unterstützen.
Heinrich Sahl dagegen schien mehr tot als lebendig zu sein. Aufgrund seiner gemarterten Beine war er nicht
Weitere Kostenlose Bücher