Das Geheimnis der Totenmagd
verehrten ihn wie einen zweiten Messias, und er verstand es glänzend, den Wahnsinn der Verzweiflung unter den Geißlern noch weiter anzuheizen. Einige Frauen waren ihm vollständig verfallen.
In Mainz trug es sich sogar zu, dass Menschen den Meister aufsuchten, um ihm ihre Sünden zu beichten. Da er sich aufgrund seiner Berufung über jeden Zweifel erhaben fühlte, kam er diesem Ansinnen nach und legte den Sündern mitunter harte Bußen auf. Doch als sich ein junger Geistlicher, dem er die Beichte abgenommen hatte, daraufhin erhängte, kam es zu einem Eklat.
Kurz nachdem die Selbsttötung ruchbar geworden war, suchte ein Priester den Meister im Hause seiner wohlhabenden Gastgeber auf und bezichtigte ihn der Amtsanmaßung.
»Was untersteht Er sich, der Wicht! Ich maße mir nichts an, im Gegenteil, es wird an mich herangetragen«, empörte sich der Erhabene und war nahe daran, den Widersacher für seine Unverfrorenheit zu ohrfeigen. Doch das erwies sich als unnötig, denn bereits wenige Minuten später zerrten wir den Priester vom Hofe des Anwesens, schleiften ihn vor die Stadttore aufs freie Feld und steinigten den Hilflosen unter schrillen Schreien wie »Papistenknecht« und »Antichrist« zu Tode. Einige Mainzer Bürger, die der Schreckenstat Einhalt gebieten wollten, wurden von uns ergriffen und bekamen das Satanszeichen auf die Stirn gebrannt.
Danach hatten wir es eilig, aus Mainz zu verschwinden, und zogen den Rhein entlang in Richtung Worms. Als wir uns in den Abendstunden an den Rheinauen nahe dem Marktflecken Guntersblum niederließen, kam es nach gegenseitigen Auspeitschungen erneut zu einer Massenorgie, die erst im Morgengrauen abzuebben begann. Auch dieses Mal wurde danach eine tote Frau aufgefunden, die eindeutig erwürgt worden war. Der Geißlerführer machte keinen Versuch, den Mörder zu ermitteln, er äußerte nur lapidar, sie sei ein Opfer ihrer Fleischeslust geworden, ließ die Tote notdürftig bestatten und drängte zum Aufbruch.
Als einer der wenigen unter den Geißlern war ich während der allgemeinen Ausschweifung enthaltsam geblieben, hegte ich doch eine an Abneigung grenzende Scheu vor dem weiblichen Geschlecht. Den ganzen Morgen grübelte ich, denn immer wieder sah ich den Meister vor mir, wie er inmitten des Gelages mit zahllosen Frauen verkehrt hatte.
Schließlich richtete ich in gedämpftem Ton das Wort an ihn: »Meister, darf ich mir erlauben, Euch eine Frage zu stellen?« Auf sein Nicken hin presste ich nach einigem Zögern hervor: »Wieso frönt Ihr der Unkeuschheit, wo Ihr doch, wie ich weiß, über dergleichen Anfechtungen längst erhaben seid?«
Der Angesprochene zuckte bei der Frage ganz leicht zusammen. Dann flüsterte er mir, seinem Intimus, zu: »Weil ich nur so den läufigen Metzen ihre Geilheit austreiben kann!«
Doch bei diesen Worten hatte sich sein Atem deutlich beschleunigt, und was ich in diesem Moment in seinen Augen erblickte, ließ mir beinahe das Herz stocken. Ich wurde von einer grauenhaften Ahnung erfasst, die mir im Laufe der Zeit immer mehr zur Gewissheit werden sollte.
12
»Euer dichter Haarknoten hat Euch das Leben gerettet«, bemerkte Doktor Stefenelli, während er Katharina, nachdem er die Verletzung begutachtet und mit Heilsalbe bestrichen hatte, einen Kopfverband anlegte. »Er hat die Wucht des Wurfgeschosses abgefedert. So habt Ihr lediglich eine Wunde am Kopf, aber zum Glück keinen Schädelbruch. Aber auch damit ist nicht zu spaßen, nachdem Ihr ohnmächtig wart und jetzt über Übelkeit und Kopfschmerzen klagt. Wir werden Euch noch den morgigen Tag hierbehalten, und dann sehen wir weiter.«
»Was für ein Tag ist denn heute, und wie bin ich hierhergekommen?«, erkundigte sich die Totenwäscherin mit schwacher Stimme und versuchte, sich in ihrem Spitalbett aufzurichten. Doch ein jäher, stechender Kopfschmerz mit heftigem Schwindel ließen sie auf ihr Lager zurücksinken.
»Heute ist Samstag, und es hat vorhin zur siebten Stunde geschlagen. Ein junger Bursche aus Eurer Nachbarschaft, der wohl zufällig in der Nähe war, hat Euch hergebracht. Ich habe die Wunde gereinigt und die Kopfhaut mit ein paar Stichen zusammengenäht. Leider musste ich Euch um die Stelle das Haar abschneiden, ich hoffe, Ihr verzeiht mir das. Da ist natürlich eine ganz schöne Schwellung an Eurem Hinterkopf. Ein paar Tage müsst Ihr in jedem Fall noch Bettruhe halten.«
»Aber das kann ich nicht!«, stammelte Katharina verzweifelt, und Tränen liefen ihr über die
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