Das Geheimnis der Totenmagd
wenn ich zum Nachtdienst gehe. So, wie sie es den ganzen Tag über tut.«
»Das mag ja sein, aber jeden Abend verlässt sie kurz nach Euch den Turm und geht Richtung Galgengasse. Von meinem Arbeitspult am Fenster sehe ich sie immer. Und jedes Mal erschrecke ich darüber, wie ausgezehrt und krank sie aussieht. Wo sie doch früher einmal eine so blühende Frau war.« Der Maler räusperte sich. »Ich will ehrlich zu Euch sein: Sie bedeutet mir viel«, gestand er leise. »Obwohl ich mich niemals unterstehen würde, einer verheirateten Frau Avancen zu machen, das dürft Ihr mir glauben. Nein, ich habe mir diesbezüglich nichts vorzuwerfen. Unser Umgang ist ein rein freundschaftlicher, wir sind ja fast im gleichen Alter.« Der junge Maler schien sehr bewegt, und Bacher spürte sehr wohl, dass der Mann mit den rotblonden schulterlangen Haaren Gefühle für Katharina hegte, die weit über das Freundschaftliche hinausgingen. Doch er hielt an sich und murmelte stattdessen nur: »Das ehrt Euch, Rotschopf!«
Florian blickte betreten und erzählte dann weiter: »Ein paarmal bin ich rausgegangen, wenn sie draußen vorbeikam, und habe sie angesprochen. Einfach, weil sie mich so unendlich gedauert hat, sie ist ja nur noch ein Schatten ihrer selbst. Doch sie lässt überhaupt nicht mit sich reden. Ich habe das Gefühl, sie lebt in einer ganz anderen Welt. Irgendetwas Ungutes geht mit ihr vor … und man muss sie davor bewahren.« Florian wirkte sehr aufgewühlt. Er blickte den Nachtwächter eindringlich an, der seinerseits düster vor sich hin brütete.
»Habt Ihr gesehen, wo sie hingeht?«, erkundigte er sich nachdenklich.
»Nein, es wäre mir nicht wohl dabei gewesen, ihr heimlich zu folgen. So etwas Hinterhältiges ist nicht meine Art. Aber ich habe sie einmal gefragt, ob ich sie ein Stück begleiten darf, und das hat sie nachdrücklich abgelehnt. Sie gehe noch zu einer Freundin, hat sie gesagt. Offengestanden habe ich ihr das nicht geglaubt. Zumal sie wohl immer erst im Morgengrauen zurückkehrt. Auch das habe ich mehrere Male von meinem Stubenfenster aus beobachtet«, erläuterte Florian und senkte verlegen den Blick. »Jedenfalls steht für mich fest: Wo immer sie zu so später Stunde auch hingehen mag, dort liegt der Quell all ihres Unglücks. Das spüre ich hier drin.« Der Maler presste sich die Hand ans Herz.
»Ich auch«, entgegnete der Nachtwächter nach einer Weile dumpfen Brütens. »Und ich werde herausfinden, was es ist!«, setzte er entschlossen hinzu, rief den Wirt, beglich seine Rechnung und erhob sich. »Dank Euch, Kunstmaler! Ihr seid ein ehrenwerter Gesell.«
»Gott mit Euch, Nachtwächter!«, rief Florian dem Entschwindenden hinterher und bestellte sich noch ein Bier, um seine Traurigkeit zu betäuben.
*
Als Bacher aus der Schenke trat, hatte es bereits angefangen zu dämmern. Die Torwächter hatten gerade das Galgentor verriegelt und traten ihren Heimweg an. Eigentlich wäre es für ihn höchste Zeit gewesen, zum Rathaus zu eilen, um mit dem Nachtansingen zu beginnen.
Als wollte sie ihn an seine säumige Pflicht gemahnen, fing in diesem Augenblick die große Räderuhr an der Römerfassade an, die fünfte Stunde anzuschlagen. Zum ersten Mal seit über dreißig Dienstjahren hatte er sich mit dem Nachtansingen verspätet.
»Drauf geschissen« , brummelte er schließlich vor sich hin. »Es gibt Wichtigeres zu tun.«
Mit zerknirschter Miene blickte er auf den Hund herunter, der ihn mit seinen alterstrüben braunen Augen treu anblickte. Bei dem, was er vorhatte, war ihm das Tier nur hinderlich.
»Morro, weißt du was? Du hast heute Ausgang.« Während er die Lederleine vom Halsband des Tieres löste, forderte er ihn immer wieder mit den Worten auf: »Auf, Morro, lauf!« Doch der schwerfällige Rüde, der schon im zwölften Lebensjahr stand, machte keinerlei Anstalten, sich von seinem Herrn zu entfernen, sondern leckte ihm stattdessen schwanzwedelnd die Hand.
»Ist schon recht, mein Guter. Bist halt eine treue Seele«, grummelte der Nachtwächter gutmütig und streichelte dem Hund über das schwarzweiße Fell. »Aber heut kann ich dich gar nicht gebrauchen. Was mach ich denn nur mit dir?« Er musste den Hund, der sehr an Katharina hing, unbedingt loswerden, denn wenn er ihr später folgen würde, hätte das Tier durch sein freudiges Bellen nur ihre Aufmerksamkeit erregt.
»Gut, dann bring ich dich jetzt zum Herrn Kunstmaler«, entschied Ruprecht spontan und hastete wieder zum Galgenwirt zurück, in der
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