Das Geheimnis der Wellen
ausstreckte, zitterten.
Abra eilte ins Bad, um ihr ein Glas Wasser zu holen.
»Alles ist gut. Ich bin ja da. Beruhig dich, Gran.«
»Hier, Hester, trink einen Schluck Wasser. Achte auf deine Atmung.« Abras Stimme war der reinste Balsam für ihre Seele. »Halt ihr das Glas an die Lippen, Eli. Ich schiebe ihr ein Kissen in den Rücken. Ich möchte, dass du dich entspannst. Atme!«
Hester klammerte sich mit einer Hand an Eli und nippte langsam an dem Glas, während Abra sie in die Kissen sinken ließ.
»Ich habe ein Geräusch gehört.«
»Ich bin sofort nach oben gerannt«, hob Eli an. »Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht.«
»Nein.« Mit einem Blick auf Eli schüttelte Hester den Kopf. »In jener Nacht. Da habe ich ein Geräusch gehört. Ich bin deswegen aufgestanden. Ich weiß noch … Ich weiß, dass ich aufgestanden bin.«
»Was war das für ein Geräusch?«
»Schritte. Ich dachte … Aber dann glaubte ich, ich hätte mir das nur eingebildet. Alte Häuser machen Geräusche, daran bin ich gewöhnt. Das ist der Wind, habe ich mir gesagt. Doch in jener Nacht war es fast windstill. Es ist nur das Haus, das ächzt wie eine alte Frau. Ich wollte mir einen Tee machen, so einen Kräutertee, den du mir besorgt hast, Abra. Der beruhigt. Ich wollte mir einen Tee machen, um weiterschlafen zu können. Deshalb bin ich aufgestanden und nach unten gegangen. Meine Erinnerung ist lückenhaft. Alles ist lückenhaft.«
»Das ist in Ordnung, Gran. Du musst dich nicht erinnern.«
Ihr Griff verstärkte sich. »Ich habe etwas gesehen. Ich habe jemanden gesehen. Jemanden im Haus. Bin ich gerannt? Bin ich gestolpert? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Wen hast du gesehen?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin mir nicht sicher.« Ihr versagte die Stimme. »Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Ich versuche, nach unten zu gehen, aber er ist hinter mir. Ich denke … ich denke, dass ich nicht mehr zurückkann, also renne ich hinunter. Ich höre … höre, wie er mich verfolgt. Anschließend kann ich mich an nichts mehr erinnern, bis ich im Krankenhaus wieder aufgewacht bin. Du warst da, Eli. Du warst der Erste, den ich gesehen habe, als ich aufgewacht bin. Da wusste ich, dass alles gut wird.«
»Alles ist gut.« Er küsste ihre Hand.
»Jemand war im Haus. Ich habe das nicht nur geträumt.«
»Nein. Ich werde nicht zulassen, dass er zurückkommt, Gran. Er wird dir nicht noch einmal wehtun.«
»Du bist derjenige, der hier wohnt, Eli. Du musst auf dich aufpassen.«
»Das werde ich. Das verspreche ich dir. Ich trage die Verantwortung für Bluff House. Vertrau mir.«
»Mehr als jedem anderen.« Sie schloss die Augen. »Hinter dem Kleiderschrank im dritten Stock, dem großen mit den Doppeltüren, gibt es eine Tapetentür.«
»Ich dachte, das geheime Treppenhaus wurde zugemauert.«
Ihre Atmung beruhigte sich, und als sie die Augen wieder aufmachte, war ihr Blick ganz klar. »Ja, das meiste schon, aber eben nicht alles. Neugierige kleine Jungs können keinen schweren Schrank verschieben, auch nicht die Regale im Erdgeschoss. Die im alten Teil des Hauses, wo sich dein Großvater eine Werkstatt eingerichtet hatte. Hinter diesem Regal gibt es auch eine Tapetentür. Den Rest habe ich zumauern lassen, ein Kompromiss.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Dein Großvater hat mich gewähren lassen, und ich habe ihn gewähren lassen. Deshalb haben wir diese zwei Türen offen gelassen und nicht vollständig mit der Bluff-House-Tradition gebrochen. Nicht einmal deinem Vater habe ich davon erzählt. Auch nicht, als er längst alt genug war, um keine Dummheiten mehr zu machen.«
»Warum?«
»Sein Platz ist in Boston. Und deiner ist hier. Wenn du dich verstecken oder fliehen musst, kannst du die Tapetentüren benutzen. Niemand weiß davon, nur Stoney Tribbet. Falls er sich überhaupt daran erinnert.«
»Er erinnert sich daran. Er hat mir eine Skizze gemacht und gezeigt, wo das geheime Treppenhaus einmal war. Aber er hat mir nicht verraten, dass es noch zwei Zugänge gibt.«
»Er ist eben loyal«, sagte Hester nur. »Ich habe ihn gebeten, niemandem etwas davon zu erzählen.«
»Na gut. Nun weiß ich Bescheid, du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen.«
»Ich muss sein Gesicht sehen. Das Gesicht des Mannes, der an jenem Abend im Haus war. Und ich werde es sehen. Ich werde meine Erinnerungslücken schließen.«
»Wie wär’s, wenn ich dir einen Kräutertee mache?«, schlug Abra vor.
»Für Tee ist es viel zu spät.« Hester
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