Das Geheimnis der Wellen
zurückerobern, die ihm geblieben waren, und lernen, den Rest loszulassen.
Als Eli vor dem schönen alten roten Backsteinbau in Beacon Hill hielt, hatten sich Wolken vor die Sonne geschoben. Doch der Riesenstrauß Tulpen würde sie bestimmt überstrahlen. Er hielt sie im Arm, während er den großen Übertopf mit Hyazinthen aus dem Wagen nahm. Das war eine der Lieblingsblumensorten seiner Mutter.
Er musste zugeben, dass ihn die Fahrt, der Termin und der Spaziergang mehr ermüdet hatten als gedacht. Aber seiner Familie gegenüber wollte er sich nichts anmerken lassen. Gut möglich, dass es draußen dämmerte, aber er klammerte sich an die Hoffnung, die er im Park geschöpft hatte.
Als er zur Tür ging, wurde sie schon aufgerissen.
»Mr. Eli, willkommen daheim.«
»Carmel.« Hätte er die Hände frei gehabt, hätte er die langjährige Haushälterin am liebsten umarmt. Stattdessen beugte er sich zu der kleinen, stämmigen Person mit der notorisch guten Laune hinunter und küsste sie auf die Wange.
»Sie sehen so dünn aus.«
»Ich weiß.«
»Ich werde Alice sagen, sie soll Ihnen ein Sandwich machen. Und das werden Sie dann essen.«
»Ja, Madam.«
»Was für schöne Blumen!«
Es gelang Eli, eine Tulpe aus dem Strauß zu ziehen. »Für Sie.«
»Ach, Sie sind wirklich ein Schatz. Treten Sie ein, treten Sie ein! Ihre Mutter wird gleich nach Hause kommen, und Ihr Vater wollte gegen halb sechs da sein, um keine Sekunde mit Ihnen zu verpassen. Sie müssen unbedingt zum Abendessen bleiben. Alice macht einen Braten und Crème brulée mit echter Vanille.«
»Ich sollte auch eine Tulpe für sie zurücklegen.«
Carmels breites Gesicht strahlte, bevor sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Nicht doch.« Da waren sie wieder, der Schmerz, das Leid, die er seit dem Mord an Lindsay auf den Gesichtern seiner Lieben wahrgenommen hatte. »Alles wird gut.«
»Natürlich. Hier, lassen Sie mich den Übertopf nehmen.«
»Die sind für Mom.«
»Sie sind ein guter Junge. Das waren Sie schon immer. Ihre Schwester kommt übrigens ebenfalls zum Essen.«
»Ich hätte noch mehr Blumen kaufen sollen.«
»Ha!« Sie drängte die Tränen zurück und scheuchte ihn davon. »Bringen Sie die Ihrer Großmutter. Sie ist oben im Wohnzimmer, vermutlich vor dem Computer. Man kann ihr das einfach nicht ausreden, ständig sitzt sie davor. Ich bringe Ihnen das Sandwich und eine Vase für die Tulpen.«
»Danke.« Er ging auf die breite, elegant geschwungene Treppe zu. »Wie geht es ihr?«
»Jeden Tag etwas besser. Sie kann nicht fassen, dass sie sich gar nicht erinnern kann, wie das passiert ist. Sie wird sich freuen, Sie zu sehen.«
Eli ging nach oben und wandte sich auf dem Treppenabsatz in Richtung Ostflügel.
Wie Carmel bereits vermutet hatte, saß seine Großmutter am Schreibtisch und tippte etwas in ihr Notebook.
Mit einem durchaus geraden Rücken unter ihrem grünen Cardigan, wie ihm auffiel. Ihr von silbernen Strähnen durchzogenes Haar war elegant frisiert.
Kein Rollator, bemerkte er kopfschüttelnd, dafür lehnte ihr Stock mit dem silbernen Löwenkopf am Schreibtisch.
»Und, agitierst du wieder?« Er trat hinter sie, drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Sie nahm einfach nur seine Hand. »Ich agitiere mein Leben lang. Warum jetzt damit aufhören? Lass dich ansehen.«
Sie schob ihn von sich weg und drehte sich mitsamt ihrem Stuhl. Ihre haselnussbraunen Augen musterten ihn forschend. Dann verzogen sich ihre Lippen zu einem feinen Lächeln.
»Whiskey Beach tut dir gut. Du bist nach wie vor zu dünn, aber nicht mehr so blass und traurig. Du hast mir den Frühling mitgebracht.«
»Dafür musst du dich bei Abra bedanken. Sie hat mir geraten, Tulpen zu kaufen.«
»Und du warst klug genug, auf sie zu hören.«
»Sie lässt sich schwer abwimmeln. Das ist bestimmt ein Grund, warum du sie so gern magst.«
»Unter anderem.« Ihre Hand griff nach seiner. »Es geht dir besser.«
»Heute.«
»Heute ist heute, und morgen ist morgen. Setz dich! Du bist so groß, dass ich mir sonst den Hals verrenken muss. Setz dich und erzähl mir, was du so treibst.«
»Ich arbeite, grüble, tue mir leid und habe beschlossen, dass mir einzig und allein die Arbeit weiterhilft. Deshalb versuche ich, Grübeln und Selbstmitleid bleiben zu lassen.«
Hester strahlte ihn zufrieden an. »Na, siehst du! Endlich erkenne ich meinen Enkel wieder.«
»Wo ist dein Rollator?«
Ihr Gesicht bekam etwas Überhebliches. »Den habe ich abgeschafft. Die Ärzte haben
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