Das Geheimnis des Falken
gab Gino zu bedenken. »Sie sind noch keine Woche hier, und was ist seitdem nicht alles passiert!«
Das Gelächter der anderen klang nicht ganz unbefangen. Es schwang eine Spur von Misstrauen darin.
Ungeduldig wandte sich Caterina ab und trieb die übrigen aus dem Zimmer. »Laßt ihn in Ruhe«, sagte sie. »Was soll's? Ihm ist das doch alles egal!« Aber dann fügte sie hinzu, um mir eine letzte Chance zu geben: »Unser Plan geht dahin, geschlossen vor dem Haus Professor Elias zu erscheinen und ihn dazu zu bringen, daß er sich uns zeigt. Wenn wir beruhigt sind, wenn er nicht verletzt ist, gehen wir anschließend in die Morgenvorlesung.«
Ein paar Minuten darauf hörte ich sie das Haus verlassen. Es folgte das unvermeidliche Getöse der Vespas, die, glaube ich, Gino und Gerardo gehörten. Ich sah ihnen vom Fenster aus nach und schaute dann hinüber zum ersten Stock, Nummer 5. Die Fenster standen offen. Carla Raspa hatte ihren Tag begonnen.
Signor Silvana war noch beim Frühstück, als ich zum Kaffee hinunterkam, und fragte mich sofort, ob ich irgend etwas Näheres über die Ereignisse der letzten Nacht wisse. Ich sagte, daß ich in der Nähe der Piazza Carlo gewesen sei und den Menschenauflauf gesehen habe.
»Wir wissen nur, was unsere jungen Leute hier erzählen«, sagte er, »aber die Sache gefällt mir nicht. Früher haben wir auch Krawalle gehabt, das gibt es von Zeit zu Zeit an allen Universitäten, aber dies hier klingt schlimm. Ist es wahr, daß sie Professor Elia mit Teer beschmiert und in Federn gewälzt haben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich habe nichts dergleichen bemerkt.«
»Nun, ich werde ja auf der Behörde die Wahrheit erfahren«, sagte er. »Wenn gestern abend etwas Ernstes geschehen ist, werden wir für einige Tage zusätzliche Polizeikräfte nach Ruffano holen müssen. Durch die Examensaufregung und das Festival geht es hier ohnehin turbulent genug zu, von Demonstrationen ganz zu schweigen.« Ich sah mich nach einem Morgenblatt um, konnte aber keins entdecken. Vielleicht war es in der Küche gelandet oder gar nicht eingetroffen.
So trank ich meinen Kaffee aus und ging hinunter zur Piazza Matrice, um mir eine Zeitung zu kaufen. Unruhe lag in der Luft. Die Piazza wimmelte von Leuten, die ihre Einkäufe machten, und von den unvermeidlichen Gruppen von Arbeitslosen, die nicht aus freiem Willen, sondern der Not gehorchend faulenzten und ins Stadtzentrum strömten, um endlos herumzustehen und zu gaffen.
Und überall sah man Studenten, in lebhafte Diskussionen verstrickt. Die meisten strebten zur Piazza Carlo hinauf. Die Gerüchte, die aus allen Ecken kamen, wölkten auf dem kleinen Platz wie Dampf über einem siedenden Kessel.
Kommunistische Verschwörer wollten die Universität in die Luft sprengen … Eine Faschistengruppe hatte versucht, das Regiment in der Stadt an sich zu reißen … Auf dem Abendessen im ›Panoramica‹ waren Gäste vergiftet worden … Die Privathäuser der Fakultätsleiter hatte man geplündert … Ein Irrer aus Rom, der in der Hauptstadt eine Frau aus Ruffano, die arme Marta Zampini, ermordet hatte, lief inzwischen frei in den Straßen herum und hatte Anstalten gemacht, Professor Elia umzubringen.
In der Zeitung war nichts zu finden, weder über die Vorgänge der letzten Nacht noch, abgesehen von einer ganz kurzen Notiz, über den Mord. Die Polizei hielt den Dieb nach wie vor in Gewahrsam, stellte aber andernorts weitere Ermittlungen an. Andernorts. Bedeutete das Ruffano?
Plötzlich kam, von der Via del Martin her, Bewegung in die Menge. Die Leute wichen nach beiden Seiten zurück, um einem Priester und einem Meßgehilfen den Weg freizugeben, die vor einem Sarg hergingen. Der Sarg wurde von vier Männern getragen und war mit einem Bahrtuch bedeckt. Hinter dem Sarg gingen die Trauernden, ein schielender Mann und eine tiefverschleierte Frau, die sich auf seinem Arm stützte.
Der Zug bewegte sich auf San Cipriano zu. Die gaffende Menge flutete wieder zusammen, als er vorüber war, während ich dem Sarg wie ein Traumwandler folgte und plötzlich in der Kirche inmitten neugieriger Einheimischer stand. Ich hörte noch die ersten Worte: »Requiem aeternam dona eis Domine: et lux perpetua luceat eis.« Dann wandte ich mich ab und verließ die Kirche.
Als ich die Tür aufstieß, erblickte ich einen Mann neben dem Tisch, an dem Kerzen verkauft wurden. Er beobachtete die Leute, und dann fiel sein Blick auf mich: Ich glaubte ihn zu erkennen und schloß aus der
Weitere Kostenlose Bücher