Das Geheimnis des Falken
traten hinaus in die Diele. Der Präsident war ein Mann irgendwo zwischen fünfundfünfzig und fünfundsechzig, breitschultrig, mittelgroß, grauhaarig, mit schönen Augen und regelmäßigen Zügen, die darauf schließen ließen, daß er einmal sehr gut ausgesehen haben mußte. Er sah auch heute noch gut aus, obwohl sich die überstandene Krankheit in seiner grauen Hautfarbe verriet. Seine Erscheinung drückte die Autorität und die Vornehmheit eines Mannes aus, der einem jeden ganz spontan Sympathie und Respekt und sogar Zuneigung abnötigt. Mein Schuldbewusstsein wuchs.
»Dies ist Signor Fabbio«, sagte die Signora, als ihr Mann bei meinem Anblick stehen blieb. »Er brachte eine Bestellung aus der Bibliothek, wo er als Assistent arbeitet, und wollte gerade gehen.«
Ich begriff, wie sehr ihr daran lag, daß ich verschwand, und so blieb mir nichts weiter, als mich zu verbeugen.
Der Präsident nickte mir zu:
»Bitte lassen Sie sich durch mich nicht vertreiben, Signor Fabbio«, sagte er, »ich würde mir gern von der neuen Bibliothek erzählen lassen, wenn Sie auch für mich ein paar Minuten erübrigen könnten.«
In einem instinktiven Rückfall in meine Reiseleitermanieren verbeugte ich mich zum zweiten Mal.
Signora Butali schüttelte mit dem Kopf und sagte vorwurfsvoll: »Ich habe dich telefonieren hören. Das strengt dich zu sehr an. Du hättest mich rufen sollen!«
Er drückte mir die Hand und blickte mich aus seinen schönen Augen forschend an. Dann wandte er sich seiner Frau zu: »Ich hätte doch selbst an den Apparat kommen müssen«, sagte er. »Leider handelte es sich um eine schlimme Nachricht.«
Ich versuchte, mich unauffällig zurückzuziehen. Aber er streckte die Hand aus und sagte: »Nein, gehen Sie nicht. Es geht um nichts Privates, sondern um einen ganz schrecklichen Unfall. Ein Student ist heute morgen tot unten an den Stufen der Scalette del Teatro gefunden worden.«
Signora Butali schrie leise auf.
»Der Polizeikommissar war am Apparat«, fuhr der Präsident fort, »er hatte eben erst erfahren, daß ich wieder zurück bin, und berichtete mir pflichtgemäß, was vorgefallen war. Offenbar«, er wandte sich an mich, »war ja wohl für letzte Nacht eine Ausgangssperre verhängt worden wegen gewisser Zwischenfälle, die es anfangs der Woche gegeben hat, so daß alle Studenten, die über keine Ausgeherlaubnis verfügten, um neun Uhr auf ihren Zimmern oder in ihren Heimen sein mußten. Dieser junge Mensch, wie vielleicht auch noch ein paar andere – widersetzte sich den Anordnungen. Als er dann eine Patrouille kommen hörte, muß er in Panik geraten und auf dem kürzesten Wege davongelaufen sein, welcher in eben dieser teuflischen Treppe bestand. Dabei stolperte er, stürzte die ganze Treppe hinunter und brach sich das Genick. Seine Leiche wurde, wie gesagt, heute morgen gefunden.«
Er verlangte nach seinem Stock, den Signora Butali ihm hinüberreichte, und ging langsam voran in das Zimmer, das wir gerade verlassen hatten.
»Das ist ganz schrecklich«, sagte sie, »und ausgerechnet in diesem Augenblick, wo alle anderen Studenten feiern wollen. Hat man die Sache offiziell bekannt gegeben?«
»Das soll noch im Laufe des Vormittags geschehen«, erwiderte der Präsident. »Man kann so etwas nicht vertuschen. Der Kommissar wird gleich kommen, um den Fall mit mir durchzusprechen.«
Die Signora zog einen Stuhl heran, der am Schreibtisch stand, und er setzte sich. Sein Gesicht wirkte noch grauer als vorhin.
»Ich werde eine Sitzung des Universitätsrates einberufen müssen«, sagte er. »Aber im Augenblick ist das sinnlos. Sie sind vermutlich alle bei der Festversammlung. Es tut mir leid, Livia, aber du wirst furchtbar viel telefonieren müssen.«
Er tätschelte ihre Hand, die auf seiner Schulter lag.
»Natürlich«, sagte sie mit einer resignierten Geste in meine Richtung.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses Ausgehverbot wirklich notwendig war«, sagte der Präsident, »mir will es – leider – eher so scheinen, als habe der Rat aus einer Kurzschluss-Reaktion heraus gehandelt – mit dem unvermeidlichen Ergebnis, daß gewisse Studenten rebellierten, und so kam es denn zu diesem Unglücksfall. Hat es viel Unruhe gegeben wegen des Verbots?« Er schaute mich an.
Ich wußte nicht recht, was ich ihm antworten sollte, und sagte schließlich: »In den verschiedenen Cliquen ging es ziemlich hoch her. Sie schienen einander heftig zu befehden, wobei die Rivalität zwischen den WW-Studenten
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