Das Geheimnis des Felskojoten (German Edition)
nicht anders. Die Frau war schlank und hatte lange blonde Haare. Von hinten sah sie aus wie Mitte zwanzig. Aber mit dem grellen Make-up, mit dem sie versuchte, ihre zahlreichen Falten zu überdecken, und dem verlorenen Ausdruck in ihren Augen wirkte sie wie Ende sechzig.
Shane stieß Serena unter dem Tisch an.
»Ich auch bitte«, sagte sie schnell und schob ihren Becher vor.
Die Frau schenkte ihnen ein.
Serena konnte ihren Blick noch immer nicht von der Bedienung losreißen. Die Schürze, die die Frau trug, schien mit Zeitungsausschnitten bedruckt zu sein. Doch als Serena genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich um Suchanzeigen handelte – Suchanzeigen vermisster Personen.
Die Frau bemerkte Serenas Interesse.
»Mein Sohn ist eine dieser vermissten Personen«, erklärte sie leise. »Die Schürze ist meine Art, zu helfen. Ich kann nichts anderes tun.«
»Es tut mir sehr leid«, sagte Serena und sah betroffen zu Boden.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, erwiderte die Frau. »Mir bleibt nur die Hoffnung.« Dann fuhr sie mit unbefangener Stimme fort: »Braucht ihr Speisekarten, oder wisst ihr, was ihr wollt?«
»Gibt es ein Mittagsangebot?«, fragte Shane.
»Zwiebelsuppe und Salat, dazu ein Sandwich mit Fleischklößen«, ratterte die Frau mechanisch runter.
»Das nehme ich«, sagte Shane zufrieden. »Und du, Serena?«
»Könnte ich nur die Suppe und den Salat haben?«, fragte sie zaghaft. »Ich bin nicht sehr hungrig.«
»Kein Problem, Süße«, erwiderte die Bedienung lächelnd und verschwand in der Küche.
»Super Angebot«, lästerte Serena und warf Shane einen mürrischen Blick zu.
»Warte ab, bis das Essen da ist.«
Sie saßen schweigend am Tisch.
»Du weißt schon eine ganze Menge über mich«, sagte Serena, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Erzähl mir mal etwas von dir.«
»Was weiß ich denn alles von dir?«, fragte Shane.
»Dass ich Fabians Schwester bin, Fotografin von Beruf, Ungarisch spreche und normalerweise nicht in Einrichtungen wie dieser verkehre.«
»Das ist natürlich eine überwältigende Menge«, erwiderte Shane spöttisch. »Also gut, ich bin Einzelkind. Meine Eltern waren nie verheiratet, und ich kenne meinen Vater hauptsächlich aus den Erzählungen meiner Mutter.«
»Du hast ihn nie getroffen?« Serena war bestürzt.
»Oh doch, ein paarmal, als ich klein war. Aber mein Vater war schon immer eine ruhelose Seele. Er ist in den Siebzigern aus Norwegen gekommen. Damals gab es im Norden gutbezahlte Jobs für Holzfäller. Dort hat er auch meine Mutter kennengelernt. Sie hat die großen Lastwagen gefahren, die die Holzstämme zu den Sägewerken transportiert haben. Die Holzfällercamps waren meist sehr abgeschieden, und die Mannschaft hat monatelang in der Wildnis zusammengelebt ohne viel Kontakt zur Außenwelt.«
»Das hört sich nach einem harten und rauen Leben an«, stellte Serena fest.
»Das war es auch«, erklärte Shane. »Aber für viele junge Männer war es die Gelegenheit, sich einen guten finanziellen Start im Leben zu verschaffen. Nach ein paar Jahren im Busch hatte man genügend Startkapital für ein Haus oder ein Geschäft, manchmal sogar für beides.«
»Du bist also im Norden aufgewachsen?«
Shane schüttelte den Kopf.
»Nein, meine Mutter war nur ein paar Monate in dem Camp. Als sie mit mir schwanger wurde, ist sie nach Hause zurückgekehrt. Ihre Familie lebt auf dem Blackfoot-Reservat in der Nähe von Calgary.«
»Dann bist du also von deiner indianischen Mutter auf dem Reservat großgezogen worden?«
»Auch nicht ganz richtig«, lachte Shane. »Mein Vater – sein Name ist übrigens Björn Bergström – hatte zwar nie vor, meine Mutter zu heiraten, aber als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, hat er ihr eine große Summe Geld zukommen lassen, damit sie mich vernünftig großziehen kann. Meine Mutter wusste, dass es nicht leicht für mich sein würde, auf dem Reservat aufzuwachsen, weil ich nur ein Halbblut bin. Und sie wollte mir Zugang zu der Welt meines Vaters verschaffen, wollte, dass ich auch seine Wurzeln kennenlerne und verstehe. Also hat sie mit dem Geld ein Haus in Gleichen gekauft. Gleichen ist eine kleine Stadt oder vielmehr ein Dorf direkt außerhalb des Reservats. Es wohnen dort nicht mehr als vierhundert Menschen, aber es war eine Verbindung zur Welt der Weißen . Gleichzeitig hatte ich meine indianische Familie unmittelbar nebenan.«
»Hast du eine große Familie?«, wollte Serena wissen.
»Ich habe viele Cousinen und
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